Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Krieger. Ein Ritter und ein Mönch.
Als er seinen schwarzen Habit ablegte, zog er gleich wieder schwarze Kleidung an. Aber ich vermute, dass er unter der Samtjacke das weiße Tatzenkreuz mit den acht Spitzen trägt.
Ich glaube, er ist ein Johanniter. Er untersteht dem Großmeister in Rhodos und gehört zur spanischen Zunge – der Orden ist in Landsmannschaften aufgeteilt, in Zungen: also in die Sprachen der Provence und der Auvergne, in die französische, die englische, die deutsche, die italienische und die spanische Sprache. Ein Johanniter mit kastilischem Namen, der in Granada als Muslim geboren wurde? Interessant! Wenn ich nur wüsste, wie sein Name lautete, bevor er Fra Gil Alvarez wurde … Gil ist kein maurischer Name.
Der Mann, der sich als mein Ehemann ausgibt, setzt sich wieder neben mich auf das Bett und gibt mir den kleinen Spiegel, der einen Sprung aufweist.
Ich bin entsetzt, denn ich erkenne mich selbst nicht. Eine Fremde blickt mir entgegen. Wie eine frische Narbe reißt der Sprung mein Gesicht in zwei Teile, die nicht zusammenpassen.
Wer ist diese erschöpfte, abgemagerte Frau, der die Strapazen der letzten Monate ins Gesicht geschrieben sind? Lange dunkle Haare, wirr und blutverklebt. Blaue Augen, matt und glanzlos. Sinnliche Lippen, vor Schmerz verkniffen und blass. Die Haut ist aufgeschürft und zerkratzt, wie vorhin, in meiner Erinnerung an den Sturz, als ich im blutigen Schnee lag.
Mit den Fingerspitzen fahre ich über eine Narbe auf meiner Stirn. Woher stammt sie? Sie endet in einer offenen Wunde an der rechten Seite meines Kopfes. Und dieser bleifarbene Bluterguss auf meiner Wange? Und dieser verschorfte Riss?
In den Augenwinkeln und neben den Lippen erkenne ich erste Fältchen. Wie alt bin ich? Achtunddreißig? Vierzig?
Nur mühsam unterdrücke ich ein Schluchzen. Mein ganzes Leben ist mir fortgerissen worden, meine Erfahrungen, meine Erinnerungen, meine Hoffnungen, meine Ängste und Sehnsüchte … Ich bin eine Gefangene im Kerker des Vergessens, und um mich herum ist es finster wie in Dantes Inferno.
Ein Leben ohne Erinnerung ist kein Leben. Es ist ein verzweifelter Blick in einen dunklen Spiegel. Es ist das entsetzliche Gefühl, alles verloren zu haben, auch sich selbst.
Es ist die Hölle.
Mein Blick irrt hinüber zu den beiden Reisetruhen. Ich muss wissen, was da drin ist!
Gil, der zu spüren scheint, was in mir vorgeht, nimmt mir sanft den Spiegel aus der Hand und legt ihn auf den Nachttisch. Dann küsst er zärtlich meine Hand. »Du wirst dich erinnern, Adriana. An jeden Augenblick deines Lebens. Ich werde dir dabei helfen, mein Schatz«, sagt er sanft und küsst mich auf die Lippen. »Ich liebe dich, Adriana. Ich liebe dich so sehr. Alles habe ich für dich aufgegeben. Meine heiligen Gelübde habe ich gebrochen.« Er umfasst die Reliquie auf seiner Brust, als ob er einen Schwur leisten wollte. »Was ich getan habe, würde ich wieder tun. Gemeinsam werden wir noch einmal ganz von vorn anfangen.«
Heiße Tränen steigen in meine Augen. Tränen der Rührung? Oder Tränen der Verzweiflung?
Alles ist erschreckend und beängstigend zugleich. Niemandem darf ich trauen, am wenigsten mir selbst.
Welches tödliche Wissen trage ich in mir?
Meine Suche nach der Wahrheit ist eine Reise in die Vergangenheit. Und es ist eine Reise in die Hölle.
Kapitel 6
In der Zelle des Abtes
21. Dezember 1453
Gegen halb zwölf Uhr mittags
»Was hast du gesagt?«, frage ich verwirrt. Bin ich wieder aus der Zeit herausgefallen? Wie lange schon? Das darf nicht geschehen! Nicht, wenn Gil im Raum ist. Du musst wach bleiben!
»Ich habe dich gefragt, ob du aufstehen und zum Fenster gehen willst.« Lauernd sieht er mich an. Hat er bemerkt, was mit mir los war? Wie habe ich ausgesehen? Als träumte ich mit offenen Augen?
Ist das eine Falle? Will er sehen, in welcher körperlichen Verfassung ich bin?
Also schön, du kaltblütiger Mistkerl! Du wirst schon sehen …
»Komm, ich helfe dir!« Gil springt auf und zieht mir schwungvoll die Decke weg.
Gerade noch rechtzeitig kann ich den Zettel mit der griechischen Schrift zwischen den Falten des Lakens rund um das Kopfkissen verschwinden lassen. Gil darf ihn mir nicht wegnehmen. Ich spüre, dass der Pergamentfetzen ein Geheimnis birgt, dass er der Schlüssel zu einer Erinnerung ist. Ich will ihn mir nachher noch einmal in Ruhe ansehen. Vielleicht erinnere ich mich, was dieses Mandylion ist …
Gil packt meine Fußgelenke und schwingt meine Beine über die
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