Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
verstreut. Der andere Leuchter liegt in einer Nische des Chors – er ist verbogen, als wäre er mit Wucht gegen die Wand der Apsis geschleudert worden. Oder gegen den Altar. Der geschnitzte Prunksessel des Abtes ist umgestürzt.
Ein Kampf auf Leben und Tod, schießt es mir durch den Kopf. Galcerán und ich haben um den Besitz des Schlüssels gerungen. Aber wieso ist der Altar verrückt worden? Hat Galcerán dort nach dem Versteck des Mandylions gesucht?
Ich empfinde nichts, obwohl ich mich auf meine Gefühle konzentriere, auf meine Schmerzen, meine Angst, meine Wut. Dieser Ort hat keine Ausstrahlung mehr, die meine Erinnerungen zurückbringen könnte. Ist er verändert worden?
Die bewegten Bilder, die sich vor mein geistiges Auge schieben, sind verschwommen. Voller Gewalt. Und erschreckend. Aber nicht so bestürzend wie die Frage, warum Gil und Lionel in den vergangenen drei Tagen seit diesem Kampf die Spuren nicht beseitigt haben.
Oder hatte Gil den Altarraum aufgeräumt, nachdem er Galcerán und mich gefunden hatte? Hat er dann, nachdem ich aufgewacht war, ohne mich zu erinnern, alles wieder so arrangiert, wie es vorher war? Damit ich mich erinnere?
Ich atme tief durch. Ich muss auf den Campanile.
Der Weg zur Tür im linken Seitenschiff ist leicht zu finden: Eine Spur aus Blutstropfen, vermutlich das Blut der Gämse, führt mich dorthin.
Wieder entzünde ich die Kerze und gehe langsam eine endlose enge Wendeltreppe hoch. Schließlich erreiche ich durch eine Falltür das oberste Stockwerk mit dem Glockenstuhl. Der Wind, der den Schnee in den niedrigen Raum unter dem Dachgestühl wirbelt, bläst meine Kerze aus. Ich stecke sie zurück in die Zunderdose und sehe mich um.
Große Glocken, die so tief hängen, dass ich um sie herumgehen oder mich unter ihnen hindurchducken muss. Niedrige Deckenbalken. Herabhängende Seile, steif gefroren vom eisigen Wind, der durch die Kammer fegt. Und was ist das? Ich blinzele nach oben. Irgendetwas bewegt sich dort oben, irgendetwas Lebendiges …
Fledermäuse!
Reglos hängen Hunderte von diesen Viechern von der Decke des Turms herab und halten mit eingefalteten Flügeln Winterruhe. Der Wind versetzt sie in leise Schwingungen.
Schaudernd taste ich mich zwischen den Glocken hindurch und zucke erschrocken zusammen, als ich plötzlich etwas Gefrorenes ertaste. Fledermauskot? Ich rieche an meinem Finger. Nein, es ist Blut.
Wer hat sich während des erbitterten Kampfes an dieser Glocke den Kopf blutig geschlagen? Galcerán? Oder ich? Vorsichtig betaste ich die Wunde an der rechten Seite meines Kopfes. Stammt sie von dem Aufprall auf den Rand der Glocke? Oder von dem Sturz aus dem Fenster?
Mein Herz rast, als ich mich zwischen den matt schimmernden Glocken hindurch zum Fenster schiebe. Weiße Atemwolken hüllen mich ein. Panik steigt plötzlich in mir auf, und ich muss stehen bleiben, um mich zu beruhigen. Ich zittere am ganzen Körper und kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
Trotzdem taumele ich zum Fenster, lehne mich über die Brüstung und spähe hinunter. Zwanzig Ellen unter mir kann ich im dichten Schneegestöber einen Mauervorsprung ausmachen. Der Schnee sieht zerwühlt aus. Darunter ragt der schroffe Felsen vor, über den ich noch weiter in die Tiefe gestürzt bin. Erst in der Felsnische im verwilderten Gärtchen bin ich aufgeschlagen.
Dass ich diesen Sturz überlebt habe! Und dass ich diesen Kampf auf Leben und …
Plötzlich prallt jemand von hinten gegen mich und stößt mich beinahe aus dem Fenster. Im letzten Augenblick kann ich mich festhalten, bevor ich auf der Schneeverwehung unter der Brüstung ausgleite und stürze.
Ist es Gil?
Zu Tode erschrocken wirbele ich herum.
Nein, es ist Galcerán.
Kapitel 23
Im Glockenturm
21. Dezember 1453
Viertel vor sieben Uhr abends
Mit Wucht wirft er sich gegen mich, legt seinen Arm um meinen Hals, um den Schlüssel unter meiner Jacke hervorzuzerren, und drückt mich mit seinem Gewicht unerbittlich gegen die Fensterbrüstung.
Er will mich hinabstürzen!, denke ich panisch.
»Wo hast du es versteckt?«, brüllt er wieder und zerrt am Band um meinen Hals.
»Lass mich los!«
»Wo hast du das Mandylion versteckt?« Mit einem Ruck zerreißt das Band, an dem der Schlüssel hängt.
»Ich habe gesagt: Lass mich los!«, keuche ich, noch ganz außer Atem von unserem Kampf unten in der Kirche. Mit einem heftigen Stoße ramme ich mein Knie in Galceráns Unterleib und stoße ihn mit beiden Händen zurück. Nach Luft
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