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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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liege ich hier schon?, frage ich mich benommen.
    Erschrocken richte ich mich auf den Ellbogen auf und sehe mich um.
    Ich bin allein.
    Wo ist Tannhäuser, der eben noch neben mir kniete? Wo sind meine Bravi? Haben sie mich zurückgelassen, weil sie denken, ich sei tot?

Kapitel 21
    Vor dem Portal des Châtelets
21. Dezember 1453
Viertel nach sechs Uhr abends
    Dann erst bemerke ich den silbergrauen Wolf, der drei Schritte entfernt neben mir im Schnee liegt und mich hechelnd beobachtet. Mit ihm habe ich um mein Abendessen gestritten. Als ich mich aufrappele, springt er auf und sieht mich erwartungsvoll an.
    »Ich bin Sandra«, sage ich. »Und wer bist du?«
    Er legt den Kopf schief und guckt mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost. Und genauso fühle ich mich. Als verliere ich langsam den Verstand.
    Sandra, ist das mein richtiger Name? Heiße ich Alessandra? Oder Cassandra? Und weiter? Wie heißt mein Vater? Meine Familie? Der Ort, in dem ich geboren wurde?
    In den Tiefen meines Gedächtnisses nach meinem Namen zu suchen gleicht einer Schatzsuche im Treibsand. Je tiefer du gräbst …
    Also, zurück zu Frage eins: Cassandra? Oder Alessandra?
    Mir ist plötzlich so schwindelig, dass ich taumele. Ich muss mich setzen. Sofort. Sonst kippe ich um. Ich lasse mich wieder in den Schnee sinken. Wie lange ich dort mit angewinkelten Beinen hocke und völlig benommen vor mich hinstarre, ohne irgendetwas wahrzunehmen, weiß ich nicht.
    Irgendwann stupst der Wolf mich an. Sanft. Gefühlvoll.
    Ich sehe ihn an.
    »Es geht mir gut«, versichere ich ihm. »Alles in Ordnung.«
    Ganz in der Nähe ertönt ein durchdringendes Heulen.
    Der silbergraue Wolf richtet sich auf und antwortet.
    Dann sieht er mich wieder an. Mein Zustand scheint ihm keine Angst zu machen. Mir dagegen schon.
    Ich rappele mich hoch. »Na los, verschwinde.«
    Als ich mich an ihm vorbeidränge und über die kleine Terrasse gehe, um zu den von verwilderten Lorbeerbüschen eingefassten Stufen zum Châtelet zu gelangen, folgt er mir. Und als ich im dichten Schneetreiben blinzelnd die dunklen Kirchenfenster hoch über mir betrachte, um herauszufinden, ob ich von dort oben abgestürzt bin, bleibt er abwartend neben mir stehen.
    Das wuchtige Châtelet hat zwei hohe Stockwerke. Darüber ragt die gewaltige Kirche auf, von der ich jedoch nur drei runde Apsiden sehen kann, aus deren Fenstern Kerzenschimmer dringt. Ist das dort oben die Chorapsis mit dem Altar?
    Wäre ich aus dem Fenster der Apsis gestürzt, wäre ich fünfzig Ellen tiefer auf die Stufen zum Châtelet geprallt. Das hätte ich bestimmt nicht überlebt. Ich grabe den aufgewühlten und niedergetrampelten Schnee mit dem Fuß um, kann jedoch keinen dunklen Blutfleck entdecken. Nein, hier war’s nicht …
    Seitlich vom Portal befindet sich eine kleine Treppe, die sich zu einem versetzt angelegten Gärtchen oberhalb der Terrasse hinaufwindet. Die Stufen weisen Spuren auf, die der Schneesturm beinahe zugeweht hat. Wer ist hier hinaufgeklettert? Ich? Galcerán? Gil? Ich trete in die Spuren, steige die Treppe hinauf zum Gärtchen und spähe um die Ecke. Da ist der Campanile.
    Die hinter wild wuchernden Lorbeerbüschen versteckte Pforte ist vermutlich schon lange nicht mehr benutzt worden. Das Holz ist feucht und aufgequollen und mit gelben Flechten bedeckt. Ich klettere über die Pforte, stapfe durch das verwilderte Gärtchen und gehe den steilen Abhang hinauf, bis ich endlich den Glockenturm in seiner ganzen Größe sehen kann. Ganz in der Nähe heult das Rudel.
    Mein Herz klopft bis zum Hals, nicht weil der Wolf den Kopf zurückwirft und dem Heulen antwortet, sondern weil ich plötzlich das Gefühl habe, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Der Wind bläst mir die Haare ins Gesicht, als ich mit zitternd hochgezogenen Schultern zum Glockenturm hinaufsehe.
    Er ist aus Bruchsteinen gebaut und gleicht einem wuchtigen Wehrturm, der aus einer karstigen Felszinne emporwächst. Drei hohe Stockwerke mit doppelten Spitzbogenfenstern unter einem flachen Giebeldach mit Glockenstuhl darunter. Ich stapfe weiter durch den tiefen Schnee, bis ich direkt vor der schroffen Felszinne stehe, die das Fundament des Turms bildet.
    Der Schnee war aufgewühlt, bevor der Schneesturm einsetzte. Überall sind Spuren. Aber kein Blut.
    Gil war hier, so viel ist sicher. Aber es ist unmöglich, seinen Spuren zu folgen, denn der Schnee ist weitläufig zertrampelt.
    Ich lasse den Anblick des verschneiten Gärtchens auf mich wirken, aber er ruft keine

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