Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
gekämpft?
Ich kann mich nicht erinnern.
Es gibt nur einen Weg, um herauszufinden, was da oben wirklich geschehen ist: Ich muss dort hinauf.
Ich schlittere durch das abschüssige Gärtchen, klettere über die Pforte und gehe hinunter zur Terrasse. Der Wolf folgt mir. Als ich stehen bleibe, guckt er erwartungsvoll zu mir hoch.
»Du kommst nicht mit hinein.«
In den zertrampelten Spuren gehe ich zum Portal hinauf. Der Wolf folgt mir.
Ich lehne mich gegen das wuchtige Portal. Es ist nicht verschlossen und öffnet sich mit einem leisen Quietschen.
Der Wolf will sich an mir vorbeipirschen, doch ich stelle mich ihm breitbeinig in den Weg.
Er senkt den Kopf und legt die Ohren an.
Ich trete einen Schritt zurück in die tiefe Finsternis und lasse das Portal ins Schloss fallen. Ein kurzes Kratzen an der Tür, dann ist es still.
In der Dunkelheit nestele ich das Feuerzeug aus der Silberdose an meinem Gürtel, schlage einen Funken in den Zunder, entzünde den Kerzenstummel und sehe mich um.
Ein gewaltiges Treppenhaus, dessen Gewölbe sich in der Dunkelheit über mir verliert. Eine Treppe, die aus dem Fels herausgehauen wurde, windet sich steil nach oben. Ich mache mich auf den beschwerlichen Weg. Schon nach wenigen Stufen muss ich mich hinsetzen. Keuchend nach Atem ringend, muss ich mich an der felsigen Wand festhalten, weil ich vor Erschöpfung am ganzen Körper zittere. Aber bald geht es weiter die wuchtige Wendeltreppe hinauf. Noch eine Biegung, dann noch eine. Kleine Brocken Schnee liegen jetzt auf den Stufen. Gil und Lionel müssen vorhin hier herunterstapft sein – der Schnee kann nur von ihren Stiefeln stammen.
Eine letzte Kehre, dann sehe ich vor mir den gewölbten Torbogen mit der Tür, die zur Freitreppe hinausführt.
Das Portal ist nur angelehnt. Ich trete hinaus ins Schneetreiben und stehe auf einer kleinen Terrasse. Der böige Wind bläst die Kerze aus, bevor ich die Flamme mit der Hand schützen kann. Ich stecke den Stummel zurück in die Zunderdose. Dann sehe ich mich um. Links von mir, hinter der niedrigen Brüstung, gähnt der Abgrund. Vor mir gibt es eine kleine Tür, die ins Aedificium führt. Nach rechts führt die verschneite Freitreppe hinauf zur Kirche. Wie gewaltige Torbögen überragen die Fialen der Kirche die Treppe. Das Ende kann ich im dichten Schneetreiben nicht erkennen. Es geht also noch weiter hinauf.
Keuchend vor Anstrengung kämpfe ich mich in Gils und Lionels Fußstapfen durch den tiefen Schnee nach oben, und ich fühle mich dabei, als besteige ich den Gran Sasso. Mit zitternden Knien lasse ich mich in den festgefrorenen Schnee sinken. Bis zur Kirche sind es noch etliche Stufen. Und dann ist da noch die Wendeltreppe im Glockenturm. Und ich bin jetzt schon abgekämpft …
Tief durchatmen, dann muss ich weiter. Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. Gil wird bald zurückkehren.
Taumelnd schleppe ich mich weiter die Stufen hinauf, bis ich schließlich das Portal der Abteikirche erreiche. Hinter mir befindet sich die Tür zum Dormitorium, durch die Gil vorhin hereingepoltert ist. Wo sind er und Lionel gewesen? In der Kirche!
Ich schiebe das Portal auf und trete ein.
Die riesige Basilika ist schlicht, kalt und dunkel. Der schwache Lichtschein der flackernden Kerzen kämpft vergeblich gegen die Finsternis, in der ich das niedrige Kreuzgratgewölbe und die wuchtigen Pfeiler, die die drei Schiffe tragen, nur erahnen kann. Der schwere, süße Weihrauchduft sieht aus wie dichter Nebel und schlägt sich wie Raureif an den romanischen Steinwänden nieder. Das Weihwasser im Steinbecken neben dem Portal hat eine Schicht aus Eis.
Ich zerschlage sie, aber ich bekreuzige mich nicht. Aber wieso? Ich weiß es nicht. Meine nassen Finger wische ich an meiner Jacke ab, während ich langsam durch den Mittelgang zum Altar und zur Chorapsis gehe. In beiden Seitenschiffen führen Treppen hinunter zu den Krypten. Eine von beiden ist von flackerndem Kerzenschein düster erleuchtet.
Ich lausche auf ein Geräusch, aber alles bleibt still. Ich werde später dort hinuntersteigen, um Galceráns Leichnam zu suchen.
Der Altarraum bietet ein Bild der Verwüstung.
Entsetzt blicke ich mich um.
Der wuchtige Altar aus Stein steht schief, als wäre er verschoben worden. An der Ecke der massiven Altarplatte ist ein Splitter herausgebrochen. Ein hölzernes Altarkreuz liegt auf den Stufen vor dem Altar. Ein gusseiserner Kerzenständer ist über die Stufen ins Hauptschiff gerollt. Zwei Kerzen liegen über den Boden
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