Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Schon will ich zu den Fundamenten des Campanile hinüberhuschen, als ich plötzlich innehalte.
Die Tür der Grotte steht einen Spaltbreit offen!
Also habe ich doch richtig gehört. Er ist mir gefolgt.
Ich zögere einen Augenblick. Soll ich?
Kapitel 25
Vor der Einsiedlergrotte
21. Dezember 1453
Kurz nach sieben Uhr abends
Wenigstens ein kurzer Blick? Diese Gelegenheit bekomme ich kein zweites Mal.
Also stoße ich die Tür beherzt auf und spähe in die kleine Einsiedlergrotte, die in den karstigen Felsen geschlagen wurde.
Rasch trete ich ein und sehe mich um. Steinquader dienen als Sitze auf dem unebenen Boden, verzogene Bretter in engen Felsnischen als Regale. Auf einem klapprigen Tisch, aus Holzabfällen gezimmert, steht eine einsame Kerze. Daneben liegt eine Satteltasche. Ein Crucifixus lehnt umgedreht an der Felswand, der Haken darüber ist leer. Hat der Assassino Jesus Christus von der Wand genommen? Oder ich?
Das Kreuz auf meiner Karte – bezeichnet es dieses hölzerne Kreuz? Denn abgesehen davon ist die Höhle leer.
Ich gehe hinüber und drehe das Kreuz um. Ich betaste es. Ich schüttele es. Nichts.
Und der Haken in der Wand? Ich ziehe daran. Kein Geheimgang öffnet sich mit Donnergrollen, kein Fluchtweg aus der Abtei, kein Geheimversteck mit einem Mandylion.
In aller Eile klopfe ich mit einem Kieselstein, den ich vom Boden aufgehoben habe, die Felswände ab und spähe in die Nischen mit den Regalbrettern.
Nein. Das Mandylion ist nicht hier.
Das Kreuz auf der Karte bezeichnet ein anderes Versteck.
Ich atme tief durch.
Aber was ist das dort, auf dem obersten Regalbrett?
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und taste über das in den Felsspalt verkeilte Brett. Holzsplitter, Spinnweben und Staub rieseln auf mich herab. Aber da ist noch etwas anderes. Irgendetwas aus Leder. Ich ziehe es herunter.
Eine flache Dokumententasche.
Hastig nestele ich den Verschluss auf und spähe hinein.
Pergamente, ein ganzer Stapel. Habe ich sie hier versteckt? Ich ziehe ein Blatt heraus. Es ist eng beschrieben, aber in der Grotte ist es zu dunkel, um die Schrift zu entziffern. Ich schiebe das Blatt zurück, schließe die Ledermappe und stopfe sie unter meine Jacke.
Nichts wie weg, bevor der Assassino zurückkommt!
Soll ich noch rasch einen Blick in die Satteltasche werfen? Sandra, lass es! Aber meine Neugier siegt. Und ich habe Glück. Der Assassino hat seinen Dolch in der Tasche gelassen. Ich betaste die Klinge. Ist sie byzantinisch? Oder türkisch? Egal, sie wird mich schützen.
Ich stecke den Dolch in meinen Gürtel und verlasse die Grotte. Ich lehne die Tür nur an, bevor ich mich in meinen Spuren auf den Weg durch den Tiefschnee hinüber zur Kirche mache.
Aus den Augenwinkeln nehme ich plötzlich eine Bewegung wahr. Ein schwarzer Schatten gleitet aus den Ruinen auf mich zu. Ein bis auf die Augen schwarz verschleierter Mann mit einem rußgeschwärzten Schwert? Ein Janitschar des Sultans?
Von panischer Angst getrieben, haste ich in geduckter Haltung zur Tür des Glockenturms. Hoffentlich ist sie nicht verschlossen.
Kapitel 26
Vor der Tür zum Glockenturm
21. Dezember 1453
Kurz nach sieben Uhr abends
Nein, die Tür des Campanile ist nur angelehnt.
Ich schiebe mich hindurch, schlage sie mit letzter Kraft hinter mir zu und lege den eisernen Riegel vor. Dann sinke ich außer Atem auf die Stufen der Wendeltreppe, lehne meine heiße Stirn gegen die mit Raureif bedeckten Steine und lausche auf meinen pochenden Herzschlag.
Wie spät ist es eigentlich? Gil will zur Vesper zurück sein. Sein Brevier liegt noch auf seinem Bett im Dormitorium.
Ich muss weiter.
Mit zitternden Knien rappele ich mich hoch und gehe die Wendeltreppe hinauf zur Kirche. Gerade will ich das dunkle Seitenschiff betreten, als ich höre, wie ein Portal zuschlägt.
Ich zucke zurück, verschwinde in der dunklen Türnische und spähe in die Kirche.
Es ist Gil.
Mit dem Brevier in der Hand fegt er sich die Schneeflocken vom schwarzen Habit, den er im Dormitorium angelegt haben muss, und wendet sich dem Weihwasserbecken zu, um sich zu bekreuzigen.
Ich halte den Atem an. Vorhin habe ich die Eisschicht zerschlagen …
Gil benetzt seine Finger und bekreuzigt sich. Dann kommt er mit forschen Schritten auf mich zu, sodass ich fürchte, er hat mich doch bemerkt.
Aber nein! Im Hauptschiff kniet er mit Blick auf den Altar nieder und bekreuzigt sich ein zweites Mal. Dann geht er nach vorn zur Chorapsis, wo er sich mit ausgebreiteten Armen auf den
Weitere Kostenlose Bücher