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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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Erinnerung hervor. Also stapfe ich in Gils Spuren weiter nach rechts hinüber, wo ein steiler Felsgrat wie eine Mauer das Ende des Gärtchens bildet. Ich lehne mich gegen den mit Schnee bedeckten Fels und spähe hinunter in den Abgrund. Ein schmaler Wehrgang. Eine Brüstung mit Zinnen. Diese Abteiburg der Benediktiner dürfte so uneinnehmbar sein wie die Abbazia di Montecassino. Als ich anerkennend durch die Zähne pfeife, spitzt der Wolf die Ohren und legt den Kopf schief.
    Er folgt mir an der Felszinne entlang, bis ich stehen bleibe und mit beiden Händen den Schnee vom Felsen fege.
    Plötzlich halte ich inne und spähe über den Abgrund hinweg hinauf zur Terrasse neben dem Glockenturm. Aus den Augenwinkeln habe ich eine Bewegung über mir wahrgenommen. Einen Schatten vor dem hellen Hintergrund der vom Vollmond beleuchteten Schneewolken, eine schemenhafte Gestalt, die über die Brüstung zu mir herunterblickte.
    Gil?
    Ich wische mir die Flocken aus dem Gesicht und blinzele hinauf. Kein Schattenriss vor den Schneewolken. Eine Sinnestäuschung?
    Es war der wirbelnde Schnee, rede ich mir ein. Es muss der Schnee gewesen sein. Aber das beunruhigende Gefühl, dass ich von dort oben beobachtet werde, bleibt. Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Hastig blicke ich mich im Gärtchen um, ob sich einer der Johanniter von hinten anschleicht, um mich zu überwältigen. Aber dort ist niemand.
    Langsam atme ich aus, um mich zu beruhigen.
    Nach einem langen Blick hinauf zur Terrasse neben dem Campanile und weiter zur Turmruine, wo sich das Versteck befinden muss, das ich in der Karte mit einem Kreuz markiert habe, fege ich wieder den Schnee vom Felsgrat.
    Da ist es.
    Das Gedächtnis des Schnees. Die im Eis eingefrorene Erinnerung an das, was ich vergessen habe.
    Gefrorenes Blut.

Kapitel 22
    Im verwilderten Gärtchen unterhalb des Glockenturms
21. Dezember 1453
Kurz vor halb sieben Uhr abends
    Erschüttert blicke ich hinauf zu den Fenstern im Glockenstuhl des Campanile. Von dort oben bin ich heruntergefallen? Ungefähr zwanzig Ellen, bis ich auf einem vorspringenden Felsgrat aufgeprallt bin? Und noch mal zehn Ellen tiefer, bis ich mich auf dem karstigen Fels überschlagen habe und schließlich in dieser Nische des Gärtchens im Schnee liegen geblieben bin?
    Ich knie mich hin und fege mit beiden Händen den Schnee zur Seite.
    Blut.
    Hastig fege ich weiter. Der Wolf nimmt die Witterung auf und buddelt mit. Im hohen Bogen fliegen Schnee, Gras und Erde hinter ihn.
    So viel Blut.
    Ich habe die Stelle gefunden.
    Wie ein greller Blitz taucht plötzlich ein Bild vor mir auf: Mit weit ausgebreiteten Armen liege ich im Schnee, der von meinem Blut getränkt ist. Ich habe das Gefühl, schwerelos über meinem toten Körper zu schweben, der mit aufgerissenen Augen in den Himmel hinaufstarrt. Schnee rieselt herab und deckt mein Gesicht zu.
    Blut und Schnee.
    Und eine erfrorene rote Rose.
    Unvermittelt taste ich nach dem Schlüssel, den ich um den Hals trage.
    Dann erst bemerke ich die Rose, die sich in der finsteren Felsnische hochrankt. Ich ziehe sie aus den Schatten. Eine erfrorene blühende Rose. Wie in meinem Haschischrausch. Mit der blutigen Hand tastete der Sterbende in meinem Traum nach der roten Rose, die aus seinem Harnisch hervorrankte, und riss sie ab, um sie mir zu geben.
    Ist die Rose ein Symbol für das vergossene Blut? Für das Blut, das in meiner Erinnerung von meinen Händen tropft? Oder für das Blut Christi? Enthält das Mandylion, das ich retten soll, das Gottesblut?
    Oder ist die Szene eine verschlüsselte Vision im Haschischrausch? Ein Rätsel, das ich lösen muss? Der Papst, der Kaiser und der Sterbende, die mich alle auffordern, zum Schwert zu greifen, um das Mandylion zu retten …
    Oder ist die Rose einfach nur das Letzte, was ich bewusst wahrgenommen habe, bevor ich starb, um nach drei Tagen von den Toten wiederaufzuerstehen?
    So viel Blut. So viele Rätsel.
    Eine Weile starre ich wie benommen auf den aufgewühlten Schnee, dann blicke ich hinüber zur Gartenpforte, über die ich gestiegen bin. Der Eingang des Châtelets ist von hier aus nicht zu sehen, und der Campanile und der Felsgrat, auf dem er steht, sind von der Terrasse aus nicht zu sehen.
    Wie hat Gil mich hier gefunden?
    Mein Blick wandert nach oben zu den Fenstern des Campanile. Nur von dort oben aus kann er mich gesehen haben.
    War Gil auch dort?, durchzuckt es mich schmerzhaft. Meine Hand verkrampft sich um den Schlüssel. Habe ich gegen beide

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