Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Ihr nicht angekommen. Irgendwo in den Bergen zwischen Ascoli und Aquila wart Ihr verschollen. Deshalb sind wir sofort aufgebrochen, um Euch zu suchen. Wo ist Federico? Ist er bei Euch?«
Wahn oder Wirklichkeit?
Verunsichert lasse ich das Kilij sinken. Aber meine Schultern bleiben angespannt.
Nach allem, was in den letzten Stunden geschehen ist, oder eben nicht geschehen ist, wage ich es nicht mehr, mir Hoffnungen zu machen, ich könnte noch gerettet werden. Ich fürchte mich davor, dass ich schon wieder enttäuscht werde …
»Sandra!« Der Kardinal, der kein Zeichen seines hohen Ranges trägt, kommt mit erhobenen Händen langsam auf mich zu. »Wieso erkennst du mich denn nicht?«
Sofort weiche ich einen Schritt zurück.
»Sandra?«
»Wer seid Ihr?«
»Was ist denn in dich gefahren? Ich bin dein Cousin. Prospero Colonna.«
»Der Kardinal?«, frage ich matt. Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
»Sandra, bitte! Was ist denn mit dir … Geht es dir gut?«
Ein Gefühl der Schwäche überwältigt mich, und ich schüttele den Kopf. Mir ist auf einmal so schwindelig, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten kann. Ich taumele auf ihn zu. Meine Knie zittern, mein Herz pocht, das Blut rauscht in meinen Ohren. Gequält stöhne ich auf.
»O Gott!«, flüstere ich atemlos, als die Hitze in mir hochschießt und meinen Kopf in Flammen setzt. »Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden, bitte nicht, bitte nicht!«
Ich kann nicht mehr. Ich kann schon lange nicht mehr, aber ich wollte es mir nicht eingestehen …
»Um Gottes willen, Sandra!« Der Mann, der behauptet, mein Cousin zu sein, fängt mich auf, bevor ich stürze, und lässt mich behutsam zu Boden gleiten.
Schnee fällt aus seinem Haar auf mich herunter und kühlt meine vom Kampf erhitzte Stirn. Dann verschwimmt sein zutiefst besorgtes Gesicht vor meinen Augen, und es wird finster um mich.
Kapitel 60
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach zehn Uhr morgens
Während ich der byzantinischen Melodie lausche, die leise durch den Kaiserpalast weht, streift mein Blick die Gefäße auf dem Tisch neben mir, die Tiegel mit den fein gemahlenen Farbpigmenten in Purpurrot für das heilige Blut und in Lapislazuliblau für die Finsternis der Nacht.
In einer Glasschale liegt ein Ei. Ich schlage es behutsam auf und lasse die warme Flüssigkeit in meine offene Hand rinnen. Das Eiweiß gleitet in langen Fäden durch meine Finger, der Dotter bleibt in meiner gewölbten Handfläche zurück. Ganz vorsichtig greife ich die zarte Haut mit den Fingerspitzen und hebe ihn hoch. Er nimmt die Form eines großen Tropfens an, der jeden Moment zu platzen droht. Mit der Spitze eines Pinsels steche ich durch die Haut, und das Gelb ergießt sich träge in die Schale.
Mit dem Pinsel rühre ich den Dotter um, dann verteile ich mit den feinen Marderhaaren ein wenig von der dickflüssigen Masse auf meine Palette und verrühre das Eigelb mit fein gemahlenen Pigmenten von Lapislazuli und Indigo zu einem bläulichen Mitternachtsschwarz.
Die Nacht des Verrats, die Nacht der Todesangst, die Nacht vor der Kreuzigung muss diese Farbe gehabt haben. Zogen leichte Nebelschwaden zwischen den Olivenbäumen des Garten Getsemani hindurch? Ein bisschen mehr Grau … aber nur ein Hauch. Ja, so ist es gut. Die Farbe scheint jetzt von innen heraus zu leuchten.
Mit dem Fächerpinsel trage ich die nachtschwarze Schattierung auf den hölzernen Malgrund der Ikone auf und erschaffe so den Himmel. Vor dem indigofarbenen Hintergrund wachsen nach und nach die düsteren Schatten der knorrigen Olivenbäume aus der schwarzen Erde.
Da, die weißen Schemen, die zwischen den wuchtigen Bäumen zusammengerollt auf dem Boden liegen, das sind die schlafenden Jünger.
Ich wasche den Pinsel aus. Ein Wirbel aus Bleiweiß tanzt durch das tiefblaue Wasser im Glas.
Und jetzt Jesus. Mit wenigen Pinselstrichen skizziere ich ihn, wie er dort kniet zwischen den Bäumen, vor dem indigofarbenen Hintergrund der Vollmondnacht. Zitternd, betend die Arme zum Gebet zum Allerhöchsten erhoben. In seiner Todesangst fleht er Adonai an, er möge ihn verschonen.
So, jetzt das Purpurrot für den Blutschweiß, der über sein Gesicht rinnt. Und schimmerndes Blattgold für das Strahlen, das ihn umgibt.
Feine Linien aus Weiß und Gold verleihen seinem Gesicht Konturen. Die Wirkung ist erstaunlich. Es sieht aus, als ob das Antlitz Jesu selbst Licht ausstrahlen würde. Geschwungene dunkle Linien umrahmen die mandelförmigen
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