Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Ihr duzt euch. Erinnerst du dich nicht?«, fragt er verwundert.
Ich schüttele den Kopf und lasse mich erschöpft auf den Stuhl fallen.
Prospero hält die Ikone mit beiden Händen vor sich und betrachtet das Funkeln der Edelsteine auf dem gemalten Evangeliar aus Blattgold. »Wie ich glaubt Tommaso, dass das Erbe von Byzanz nicht nur den Griechen gehört, sondern allen Völkern. Byzanz ist nicht Geschichte. Byzanz ist eine Tradition, die weiterleben wird. In Italien. In Florenz und in Rom.« Behutsam legt er das Heiligenbild zurück auf den Tisch. »Neben der Durchsetzung der Kirchenunion hat Tommaso dir noch einen zweiten Auftrag erteilt. In Konstantinopolis solltest du nach alten Handschriften für die neu gegründete Biblioteca Vaticana suchen. Während der ersten Wochen deines Aufenthaltes hast du Schiffsladungen mit Fässern und Kisten voller Bücher, Ikonen und Kirchenschätze nach Italien geschafft. Es war eine gewaltige Rettungsaktion.« Er grinst und nimmt mein Notizbuch vom Tisch, in dem er offenbar gelesen hat. »Du hast Mehmed nicht viel zum Plündern übriggelassen.«
Ich antworte nicht.
Er schlägt das Büchlein auf und zeigt mir den letzten Eintrag. »Hast du das geschrieben?«
Ich nicke.
»Was ist geschehen?«
Die Frage ist nicht, was geschehen ist, sondern was noch geschehen wird.
Ich blicke zum Fenster hinüber. Es schneit wieder in dicken Flocken. Wie spät ist es? Der Schrecken der letzten Stunden hat mir jedes Zeitgefühl geraubt. Wie lange ist Jibril schon fort? Und was hat er vor?
»Ich weiß es nicht«, gebe ich mit erstickter Stimme zu. Das Eingeständnis meiner Schwäche fällt mir schwer, weil ich nicht sicher bin, ob ich ihm trauen kann. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.«
Bedächtig mustert er die Handschrift in meinem Notizbuch, dann die fünf Tage alte Wunde an meinem Kopf. Er gibt sich einfühlsam.
Als wüsste er, wie ich empfinde!
»Wieso hältst du dich für verrückt?«, fragt er schließlich.
»Ich kann tote Menschen sehen«, quäle ich hervor.
Er hebt die Augenbrauen. »Du meinst den Toten in der Abteikirche, den du eben …?«
»Nein, ich meine Menschen, die schon lange tot sind«, sage ich. »Menschen, mit denen ich eben noch gesprochen habe, verschwinden spurlos, als wären sie nie da gewesen. Gegenstände, die ich eben noch in der Hand gehalten habe, sind plötzlich nicht mehr da. Spuren im Schnee verschwinden. Gräber lösen sich in Luft auf, und die Leichen darin auch. Ach ja, und da sind noch die Skizzen in meinem Notizbuch, die ich nicht gezeichnet haben kann, weil die Perspektive falsch ist.«
Er sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Aber vielleicht habe ich das ja wirklich …
Mit einem Ruck springe ich auf, beuge mich über den Tisch und entwaffne ihn. Mit seinem Dolch in der Hand lasse ich mich wieder in meinen Sessel fallen. Entsetzt beobachtet er, wie ich mir die scharfe Klinge in den linken Unterarm bohre.
Der Schmerz schießt mir bis in die Schulter.
Ich muss mir selbst Schmerzen zufügen, um mir zu beweisen, dass ich noch am Leben bin und dass ich nicht unter Trugbildern leide. Ich habe das frustrierende Gefühl, vieles wieder zu verdrängen und zu vergessen, woran ich mich gerade erst erinnert habe. Die Wahrheit ist zu schrecklich, um sie zu akzeptieren. Das Gefühl, nicht zu wissen, wer du bist und was du getan hast, das Gefühl, dass du keine Macht über das hast, was um dich herum geschieht oder eben nicht geschieht, das Gefühl, immer wieder von vorn anzufangen, ist die Hölle.
Er hebt beschwichtigend die Hände. »Bitte, leg den Dolch weg!«, fleht er mich eindringlich an und streckt die Hand danach aus. »Gib ihn mir zurück!«
»Nein!« Ich lege die Klinge vor mir auf den Tisch.
Wenn er nicht der ist, der zu sein er vorgibt, werde ich ihn töten. Und wenn es ihn gar nicht gibt, wie die anderen auch, die ich gesehen und mit denen ich gesprochen habe, dann ist es sowieso egal.
Fröstelnd ziehe ich meine verkrampften Schultern hoch. Mir ist kalt!
»Frierst du?«, fragt er fürsorglich und deutet auf den Kamin, wo ein Feuer prasselt. »Soll ich noch ein Scheit nachlegen?«
»Nein.« Die Kälte kommt von innen, aus der Leere in mir.
»Was ist geschehen?« Mit patriarchalischem Gestus, mit dem er vermutlich seine Verunsicherung überspielen will, deutet er auf die Wunde an der rechten Seite meines Kopfes, den bleifarbenen Bluterguss auf meiner Wange, den verschorften Riss auf meiner Stirn, die anderen Wunden.
Er
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