Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Augen im byzantinischen Stil, ein ockerfarbener Strich markiert die gerade Nase, eine helle Schraffur unter den Augen hebt die Wangen hervor, zwei Linien über den geschwungenen Augenbrauen betonen die Stirn.
Ich trete einen Schritt zurück und betrachte die Ikone auf dem Maltisch. Die Heiligkeit leuchtet zwischen den Falten seines weißen Gewandes hervor.
Ja, das Bild gefällt mir. Es wirkt so … lebendig.
Mit einem Fächerpinsel tupfe ich die winzigen Fetzen von Blattgold von der schnell trocknenden Ikone und puste sie vorsichtig weg. Einige davon bleiben in den Schatten zwischen den Bäumen hängen. Daraus forme ich die Fackeln der Römer, die sich, geführt vom Verräter Judas, vom Tempelberg aus dem Garten nähern.
Gleich ist es so weit …
So plötzlich, dass ich mich beinahe zu Tode erschrecke, kommt Bewegung in die Szene, und das starre Bild erwacht zum Leben. Jesus richtet sich auf, wendet mir den Rücken zu und blickt zum nahen Tempelberg hinüber, der nur zu erahnen ist. Er bemerkt die Fackeln. Er weiß, was gleich geschehen wird.
Mit einem Mal bin ich mitten in der Szene. Ich sehe das Licht des Vollmonds auf den Blättern und der Rinde der Olivenbäume schimmern, rieche die nebelfeuchte Erde und höre das leise Zirpen der Zikaden.
Zwischen den Bäumen hindurch gehe ich zu Jesus hinüber, der wieder auf Aramäisch betet. »Adonai … Adonai …«
Ganz leise nähere ich mich ihm, um ihn nicht zu erschrecken. Doch er hat mich gehört. Er unterbricht sein Gebet, richtet sich schwankend auf, hält sich am Baum fest, um nicht wieder auf die Knie zu sinken, und wendet sich zu mir um.
Er hat Todesangst, zittert am ganzen Körper, und sein Gesicht ist mit winzigen Blutstropfen bedeckt, die ihm über Stirn und Wangen rinnen. Obwohl ich ihn so gemalt habe, erschreckt mich der Anblick zutiefst.
»Du schläfst nicht«, sagt er so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann.
»Nein, Rabbi, ich schlafe nicht. Ich bin wach.«
»Die anderen können nicht einmal eine Stunde mit mir wachen und beten.« Seine Stimme bebt, und seine Hand zittert, als er zu den Jüngern hinüberdeutet, die zwischen den Bäumen schlafen. »Fürchtest du dich?«
»Nein, Rabbi, ich fürchte mich nicht. Soll ich die anderen wecken?«
Kein Ja, kein Nein: »Ich will nicht, dass sie mich so sehen.«
Wortlos ziehe ich mir das Tuch von den Schultern und gebe es ihm.
Seine Augen blitzen im Mondlicht, als er mir dankbar zunickt. Er nimmt mir das Linnen aus der Hand und birgt sein blutüberströmtes Gesicht im Tuch. Tief atmet er ein und aus. Als er mich schließlich wieder ansieht, zeigt er mir das Linnen und hält es mit beiden Händen hoch. Im Licht des Vollmonds kann ich erkennen, dass sich sein Gesicht in den Stoff hineingebrannt hat, sein Schweiß, sein Blut und seine Angst.
Er gibt mir das Tuch mit dem schwach sepiafarbenen Abbild zurück. »Dies ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird, zur Vergebung der Sünden.« Unruhig blickt er über die Schulter zurück zum Fackelzug der Römer, der schon ganz nahe ist. »Rette dieses Mandylion. Tu es zu meinem Gedächtnis.«
»Ja, Rabbi.«
»Nenn mich nicht so, Alessandra. Du bist Römerin.«
»Ich bin auch Jüdin«, sage ich. »Der jüdische Zweig meiner Familie hat als Hohepriester den Tempel errichtet, der römische Zweig wird den Tempel zerstören und die Menora nach Rom bringen. Und dich.«
»Bete für mich.«
Ich nicke.
Die Römer kommen zwischen den Bäumen hervor, und das flackernde Licht ihrer Fackeln taucht sein verschwitztes Gesicht in einen goldenen Schein. Das Knirschen ihrer Schritte, das Blaken der Feuer, das Knarzen ihrer Lederharnische weckt schließlich die Jünger. Hastig springen sie auf und umringen uns.
Petrus legt seine Hand auf den Griff seines Schwertes.
Mit einer beschwichtigenden Geste tritt Jesus den Römern entgegen, die von Judas in den Garten geführt werden. »Wen sucht ihr?«
»Jesus, den Nazarener.«
»Der bin ich.«
Judas tritt einen Schritt auf den Rabbi zu und bleibt mit gesenktem Gesicht stehen. Es glüht vor Scham. Einer der Bewaffneten versetzt ihm einen Stoß, sodass er auf Jesus zutaumelt und sich an ihm festhalten muss, um nicht zu stürzen. Jesus stützt Judas und umarmt ihn.
»Vergib mir, Rabbi«, fleht Judas und bricht in Tränen aus. »Ich habe es getan.«
»Ich vergebe dir.« Jesus küsst Judas sanft auf die Stirn.
Mit einem zornigen Aufschrei zieht Petrus sein Schwert und stürmt auf einen der Römer los.
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