Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Ein Tumult entbrennt, ein Kampf auf Leben und Tod.
Jesus wendet sich zu mir um und ruft: »Rette das Mandylion!«
Sofort wirbele ich herum, presse das blutige Linnen an meine Brust und hetze stolpernd zwischen den knorrigen Olivenbäumen hindurch in die Finsternis.
Ein Römer folgt mir, ich kann seine Schritte auf dem sandigen Boden hören, das Knarzen seiner Lederrüstung, das Sirren seines Schwertes, das Keuchen.
Schwerter krachen scheppernd aufeinander, ein schriller Schmerzensschrei ertönt. Irgendjemand ist verletzt. Dann wird es plötzlich ganz still im nächtlichen Garten.
Hinter mir hechelt atemlos der Bewaffnete: »Bleib stehen!«, keucht er, jedoch nicht auf Lateinisch, sondern auf Türkisch. »Gib mir das Mandylion!«
Doch ich wende mich nicht um zu dem Yeniçeri. Und ich bleibe auch nicht stehen. Denn ich fürchte, er wird mich töten, um das Mandylion an sich zu bringen.
Plötzlich kann ich zwei Männer hinter mir hören.
Jetzt wage ich doch einen raschen Blick zurück. Galcerán folgt mir mit wehendem Habit und mit gezücktem Schwert. »Bleib stehen!«, brüllt er auf Katalanisch, während ich in vollem Lauf über Konstantins blutüberströmten Leichnam springe, das Portal aufstoße und hineinhusche.
In der Kapelle erwartet mich Jibril im schwarzen Habit. Er streckt mir die Hand entgegen. »Gib mir das Mandylion!«, fordert er auf Arabisch. »Nein!« Verzweifelt presse ich das Tuch an mich und sehe mich voller Entsetzen nach einem Fluchtweg um, doch es gibt keinen.
Jibril hebt sein Schwert zum Todesstoß, als Murat und Galcerán nacheinander in die Kapelle stürmen und in der Lache von Cesares Blut schlitternd zum Stehen kommen.
Hinter Jibril tritt langsam ein Schatten zwischen den Säulen hervor. Als der Schemen in den düsteren Schein der Kerzen tritt, sehe ich, dass er eine rote Mozzetta über der weißen Soutane trägt.
Ich erkenne ihn. Es ist mein Cousin.
Prospero als Papst!
Entsetzt weiche ich vor ihm zurück, bis ich mit der Schulter gegen eine Marmorwand stoße und nicht weiter fliehen kann. Cesares Leichnam mit dem abgetrennten Kopf liegt zu meinen Füßen. Verzweifelt schluchze ich auf.
Ich muss mich dem Kampf stellen.
Und meine Verfolger, Murat, Galcerán, Jibril und Prospero, kommen näher, immer näher, und dann …
Kapitel 61
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach zehn Uhr morgens
… schrecke ich aus dem Schlaf hoch. Ich bin schweißnass, und mein Kopf dröhnt so laut wie die Kirchenglocken von Byzanz, die die türkischen Kanonen übertönen.
»Auferstanden von den Toten.«
Erst jetzt bemerke ich den Kardinal, der mich vom Tisch aus aufmerksam beobachtet. Er hat offenbar meine Reisetruhen durchwühlt. Das Reliquiar des Mandylions, die Abendmahlskelche, die Ikone, die Karte von Konstantinopolis, das Fläschchen mit der Geheimtinte, die Phiole mit dem Haschisch, den zerbrochenen Schlüssel, all das hat er auf dem Tisch ausgebreitet.
Ich spüre, wie die Wut in mir hochsteigt wie bittere Galle. Wie kann er es wagen! Selbst wenn er der ist, der zu sein er behauptet!
Und wieso taucht er ausgerechnet jetzt auf? Wenn ich allein in der Abtei bin. Verletzt. Verwirrt. Verrückt?
Wo ist sein Gefolge? Sein Heer? Seine Bravi? In Rom? Oder in Aquila? Er ist doch wohl nicht ohne Begleitung und ohne Schutz hierhergekommen! Und wo ist eigentlich Vittorio?
Ja, verdammt, ich bin misstrauisch!
Prospero scheint meine Verstimmung nicht zu bemerken. Er zeigt auf die mit Juwelen geschmückte Ikone von Jesus Christus. »Sie ist ganz wundervoll, Sandra! Ein Prachtstück für meine Sammlung! Sie wird einen Ehrenplatz bekommen in meinem Arbeitszimmer, an der Wand gegenüber von meinem Schreibtisch. Und wenn ich Papst bin …« Er mustert mich verwirrt. »Was ist?«
Wortlos schwinge ich meine Beine über die Bettkante, stehe auf und gehe zu ihm hinüber.
»Was ich sagen wollte: Du hast alles getan, um diese Ikone vor der Vernichtung zu bewahren. Du hast dein Leben eingesetzt, um das byzantinische Erbe zu retten. Kardinal Isidor hat uns nach seiner Flucht nach Rom berichtet, was in Byzanz geschehen ist. Durch deinen heldenhaften Kampf auf den Mauern, der in Rom viele Bewunderer gefunden hat, hast du der Dynastie der Colonna sehr viel Ruhm und Ehre gemacht. Mit dir an meiner Seite werden mir im nächsten Konklave keine zwei Stimmen mehr fehlen, sodass ich endlich Pontifex werde. Ich bin sehr stolz auf dich, Sandra. So wie Tommaso.«
Ich hebe die Augenbrauen.
»Papst Nikolaus.
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