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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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waren leicht zu erkennen an ihren Melonen und den bunten Ponchos. Im ersten Moment sah ich Anna nicht – sie stand am Kopfende des Bahnsteigs der Mitre-Linie. Sie trug ein zweckmäßiges zweiteiliges Wollkostüm mit Handschuhen und einen Schal. Neben ihren wohlgeformten Beinen stand ein kleiner Reisekoffer, und in der Hand hielt sie ihren Fahrschein. Sie schien auf mich gewartet zu haben.
    «Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie auftauchen würden», sagte sie anstatt einer Begrüßung.
    «Was zum Teufel machen Sie hier?», fragte ich.
    «Ich könnte erwidern, dass wir in einem freien Land leben, aber das wäre ja wohl gelogen», entgegnete sie.
    «Sie wollen also wirklich mitkommen nach Tucumán?»
    «Das steht jedenfalls auf meinem Fahrschein.»
    «Ich habe Sie gewarnt. Es ist gefährlich.»
    «Mir schlägt das Herz bis zum Hals.» Sie zuckte die Schultern.«Alles ist gefährlich, wenn man das Kleingedruckte liest, Gunther. Manchmal ist es besser, erst gar nicht die Brille aufzusetzen. Abgesehen davon – es sind meine Verwandten, nicht Ihre. Vorausgesetzt, Sie haben überhaupt so etwas wie Verwandte.»
    «Hatte ich Ihnen das nicht erzählt? Man hat mich unter einem Felsen gefunden.»
    «Das passt. Sie haben einige Eigenschaften, die an Felsen erinnern.»
    «Nun ja, ich nehme an, ich kann Sie nicht aufhalten.»
    «Könnte lustig werden, Ihnen dabei zuzusehen, wie Sie es versuchen.»
    Ich stieß einen Seufzer aus. «Also gut. Ich weiß, wann ich mich geschlagen geben muss.»
    «Irgendwie bezweifle ich das.»
    «Waren Sie schon mal in Tucumán?»
    «Ich habe nie einen Sinn darin gesehen, dreiundzwanzig Stunden in einem dreckigen Eisenbahnwaggon zu verbringen, um zu einer vor Ungeziefer wimmelnden Müllkippe zu fahren. Das erzählt man sich jedenfalls über diesen Ort. Dass es dort nur ein paar Kirchen gibt und einen Laden, der als Universität bezeichnet wird.»
    «Und ein paar Millionen Hektar Zuckerrohr.»
    «Das klingt fast so, als hätte ich etwas verpasst.»
    «Nein, aber ich.» Ich nahm sie in die Arme und küsste sie. «Ich hoffe, du magst Süßigkeiten. Eine Million Hektar sind verdammt viel Zucker.»
    «Nach dem, was ich beim Essen zu dir gesagt habe, könnte ich ein wenig Süßes vertragen, meinst du nicht?»
    «Du hast dreiundzwanzig Stunden, um es wiedergutzumachen.»
    «Ein Glück, dass ich Spielkarten gekauft habe.»
    «Wir steigen besser ein.» Ich nahm ihren kleinen Koffer, und wir gingen über den Bahnsteig, vorbei an rollenden Verkaufsständen, die beladen waren mit Imbissen und Getränken. Wir deckten uns mit Vorräten ein, bis wir nichts mehr tragen konnten, und suchtenuns ein Abteil. Wenigen Minuten später setzte sich der Zug in Bewegung, doch nach einer halben Stunde fuhren wir immer noch nicht schneller als eine alte Lady auf einem Fahrrad.
    «Kein Wunder, dass es dreiundzwanzig Stunden dauert – bei diesen Geschwindigkeiten», beklagte ich mich.
    «Die Briten haben die Eisenbahn gebaut», informierte sie mich. «Bevor Perón an die Macht kam, gehörte sie auch ihnen.»
    «Das erklärt nicht, warum wir so langsam fahren.»
    «Die Eisenbahn wurde nicht für Menschen gebaut», sagte sie. «Sondern zum Transport von Vieh.»
    «Und ich dachte immer, nur wir Deutschen hätten die Kunst gemeistert, Menschen wie Vieh zu transportieren.»
    «Hmmm. Warst du schon immer so zynisch?»
    «Nein. Ich war immer der Augenstern meines Vaters. Du hättest mich damals sehen sollen. Ich konnte einen zwanzig Meter langen Raum mit meinem heiteren Gemüt erhellen.»
    «Klingt, als wäre dein Vater ein beeindruckender Mensch.»
    «Ja, vielleicht.»
    «Skrupellos und zynisch. Wie alle S S-Männer .»
    «Woher willst du das wissen? Jede Wette, ich bin der erste S S-Mann , dem du je begegnet bist.»
    «Ich hätte jedenfalls nie erwartet, dass es mir gefallen könnte, einen zu küssen.»
    «Ich hätte nie erwartet, einer zu werden, bestimmt nicht. Möchtest du, dass ich dir die Geschichte erzähle? Wir haben reichlich Zeit.»
    «Was ist mit unserer Abmachung, keine Fragen zu stellen?»
    «Das ist etwas anderes. Nein, ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein paar Dinge über mich erfährst. Für den Fall, dass ich getötet werde.»
    «Das sagst du nur, um mir Angst zu machen! Vergiss es. Ich bin ein großes Mädchen, ich mache sogar das Licht aus, wenn ich schlafen gehe.»
    «Möchtest du jetzt, dass ich dir die Geschichte erzähle, oder nicht?»
    «Ich nehme an, ich kann dir hier nicht entkommen. Selbst bei dieser

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