Das letzte Experiment
hob die Augenbrauen und sah zur Seite. «Mein Gott», sagte sie. «Du hattest wirklich ein interessantes Leben.»
Ich musste lächeln, als mir Louis Adlon und sein chinesischer Fluch einfielen.
«Ich verurteile dich nicht», fuhr Anna fort. «Ich denke nicht, dass du große Schuld trägst. Auf der anderen Seite bist du aber auch nicht ganz unschuldig, nicht wahr? Trotzdem, mir scheint, als hättest du bereits einen Preis gezahlt für das, was du getan hast. Du warst in russischer Kriegsgefangenschaft. Das muss furchtbar gewesen sein. Und jetzt hilfst du mir. Ich denke, das würdest du nicht tun, wenn du wie deine alten Kameraden wärst. Es ist nicht an mir, dir zu vergeben. Das ist Sache Gottes – vorausgesetzt, du glaubst an Gott –, aber ich werde zu ihm beten, dass er dir verzeiht. Vielleicht kannst du ja versuchen, selbst zu beten.»
Ich sollte sie nicht verärgern, indem ich ihr sagte, dass ich genauso wenig an Gott glaubte, wie ich an Adolf Hitler geglaubt hatte. Eine Jüdin, die zum römisch-katholischen Glauben übergetreten war, würde mein Atheismus wohl kaum kaltlassen. Nach allem, was ich ihr gerade erzählt hatte, konnte ich ihr das nicht auch noch zumuten. Also nickte ich und sagte nur: «Vielleicht.» Und wenn es einen Gott gab, dachte ich, würde er es wahrscheinlich verstehen. Schließlich ist es schwer, an Gott zu glauben, wenn man aufgehört hat, an alles andere zu glauben. Wenn man aufgehört hat, an sich selbst zu glauben.
EINUNDZWANZIG
TUCUMÁN
1950
Wir erreichten Tucumán am nächsten Abend. Der Zug hatte Verspätung, und es war beinahe Mitternacht, als wir in den Bahnhof rumpelten. Bei Nacht sah alles besser aus als bei Tage. Das Regierungsgebäude leuchtete wie ein Weihnachtsbaum. Unter den Palmen der Plaza Independencia tanzten Paare Tango. Die Argentinier schienen keinen Grund zu brauchen, um Tango zu tanzen. Doch in Wirklichkeit warteten die Tangotänzer auf den Bus. Der Bahnhof war voller Kinder. Keines aber interessierte sich für die zylinderförmige Lokomotive, die langsam abkühlte nach unserer eintägigen Fahrt. Die Kinder wollten Geld. Sie waren in dieser Hinsicht genau wie jeder andere auch. Ich verteilte eine Handvoll Münzen, dann suchte ich uns ein Taxi. Ich bat den Fahrer, uns ins Plaza zu bringen.
«Warum wollen Sie denn zum Plaza?», fragte der Fahrer.
«Weil das Plaza ein Hotel ist», erwiderte ich.
«Sie sollten lieber ins Hotel Coventry. Ich könnte Ihnen einen Sonderpreis besorgen.»
«Es gehört Ihrem Bruder, richtig?»
Der Fahrer lachte und drehte sich zu mir um. «Das stimmt. Sie würden meinen Bruder mögen.»
«Sicher, ganz bestimmt. Und das Coventry würde ich auch mögen. Aber offen gestanden war ich, als ich das letzte Mal im Coventry war, von oben bis unten zerstochen. Ich teile mein Bett nicht gern mit Wesen, die mehr als zwei Beine haben. Ich glaube, als die Luftwaffe Coventry in England bombardiert hat, hatte sie in Wirklichkeit das gleichnamige Hotel hier in Tucumán im Sinn.»
Er brachte uns zum Plaza.
Wie die meisten guten Hotels in Argentinien gab auch das Plaza sich Mühe, auszusehen, als stünde es an einem anderen Ort als Argentinien. In Madrid beispielsweise. Oder in London. Die Wände waren eichengetäfelt, der Boden aus Marmor. Ich stützte mich mit einem Arm auf den Empfangsschalter und sah den Nachtportier auf der anderen Seite an. Der Mann trug einen dunklen Anzug, der zu seinem Schnurrbart passte. Sein Gesicht und seine Haare glänzten – wahrscheinlich vom gleichen Zeug, das sie für die Mechanik des kleinen Aufzugs neben dem Empfang benutzten. Der Nachtportier nickte mir eifrig zu und zeigte Zähne, die gelb waren vom Tabak.
«Wir möchten ein großes Zimmer», sagte ich zu ihm. Es klang besser, als nach einem Doppelbett zu fragen, was wir eigentlich wollten. «Mit Bad. Und Aussicht auf diese Stadt, wenn das möglich ist.»
«Und leise», fügte Anna hinzu. «Wir mögen nämlich keinen Lärm, es sei denn, wir machen ihn selbst.»
«Unsere Hochzeitssuite wäre noch frei», sagte der Portier und sah Anna interessiert an.
Der Portier erbot sich, uns das Zimmer zu zeigen. Anna erkundigte sich stattdessen nach dem Preis, dann bot sie ihm die Hälfte dessen an, in bar. In Deutschland hätte das niemals funktioniert, doch in Tucumán war Handeln offensichtlich normal. In Tucumán feilschten sie noch mit dem Priester, wenn er ihnen nach der Beichte eine Buße auferlegte. Zehn Minuten später waren wir in unserer Suite.
Sie war
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