Das letzte Experiment
Geschwindigkeit nicht. Also schieß los. Ich kann mir ja eine Patience legen, wenn es langweilig wird.»
«Es ist ziemlich starker Tobak, und du solltest dir vorher vielleicht einen kleinen Drink genehmigen.» Ich zog eine Whiskyflasche aus der Tasche und schenkte ihr ein kleines Glas ein. «So etwas hier zum Beispiel.»
«Das ist aber ziemlich stark», sagte sie und nippte an dem Glas, als wäre darin Nitroglycerin.
Ich steckte zwei Zigaretten an und schob ihr eine zwischen die Lippen. «Es ist starker Tobak, wie ich bereits sagte. Komm schon, trink aus. Ich kann die Geschichte nur erzählen, wenn du doppelt siehst und ich dir Rauch in die Augen blase. Auf diese Weise merkst du nicht, wenn mir plötzlich jede Menge Haare im Gesicht wachsen und meine Zähne länger werden.»
Der Zug hatte die Vororte von Buenos Aires hinter sich gelassen. Wenn ich doch nur meine eigene Vergangenheit genauso einfach hinter mir hätte lassen können. Durch das offene Abteilfenster wehte Luft herein, die nach Meerwasser roch. Möwen schwebten im blauen Himmel. Die Räder ratterten unter dem Waggonboden in einem Sechsachteltakt, und für einen Augenblick erinnerte ich mich an die Kapellen, die in der Nacht des 30. Januar 1933, einem Montag, unter den Fenstern des Adlon vorbeimarschiert waren. Das war die Nacht gewesen, in der sich die Welt für immer verändert hatte. Der Tag, an dem Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden war. Ich erinnerte mich, wie die Kapellen auf dem Pariser Platz anhielten, wo sich sowohl das Adlon als auch die französische Botschaft befanden. Sie stimmten das alte preußische Kriegslied an,
Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen
. Das war der Augenblick gewesen, in dem mir klargeworden war, dass ein weiterer Krieg in Europa ausbrechen würde.
«Alle Deutschen tragen ein Bild von Adolf Hitler in sich», sagte ich. «Selbst die, die wie ich Hitler gehasst haben und alles, wofür er stand. Dieses Gesicht, diese Frisur, dieser Briefmarkenbart verfolgen uns alle bis in die Ewigkeit, eine kleine stille Flamme, die niemals ausgelöscht werden kann, brennt in unseren Seelen. Die Nazis haben von einem Tausendjährigen Reich geredet, aber manchmal denke ich, dass Deutschland und wir Deutschen tausend Jahre lang in Schande leben müssen wegen unserer Taten. Dass die Welt tausend Jahre braucht, um zu vergessen. Ich für meinen Teil werde manche Dinge, die ich gesehen habe, niemals vergessen, selbst wenn ich tausend Jahre alt werde. Und manche Dinge, die ich getan habe.»
Ich erzählte Anna alles. Das heißt, alles, was ich während des Krieges und in den Nachwirren getan hatte bis zu jenem Augenblick, als ich nach Argentinien aufgebrochen war. Es war das erste Mal, dass ich mit irgendeinem Menschen ehrlich über meine Vergangenheit sprach, dass ich nichts ausließ und nicht versuchte, zu rechtfertigen, was ich selbst getan hatte. Doch am Schluss sagte ich ihr, wer Schuld an all dem trug.
«Die Kommunisten, weil sie im November 1932 den Generalstreik ausgerufen haben, der die Neuwahlen erzwang. Von Hindenburg, weil er zu alt war, um Hitler zu sagen, dass er sich zum Teufel scheren soll. Die sechs Millionen Arbeitslosen – ein Drittel aller Arbeitskräfte –, weil sie um jeden Preis Arbeit suchten, selbst wenn dieser Preis Hitler war. Die Armee, weil sie der Gewalt auf den Straßen der Weimarer Republik keinen Einhalt geboten und weil sie Hitler 1933 unterstützt hat. Die Franzosen. Von Schleicher. Die Briten. Goebbels und all die reichen Geschäftsleute, die die Nazis finanziell unterstützt haben. Von Papen und Rathenau und Ebert und Scheidemann und Liebknecht und Luxemburg. Die Spartakisten und die Freikorps. Der Erste Weltkrieg, weil er Menschenleben wertlos gemacht hat. Die Inflation, das Bauhaus, die Dadaisten, Max Reinhardt. Himmler und Göring und Hitler und die SS und Weimar und die Huren und Zuhälter. Und ich selbst. Ich binschuld, weil ich nichts unternommen habe. Ich teile die Schuld. Ich habe mein eigenes Überleben über alles andere gestellt, so viel steht fest. Wäre ich wirklich unschuldig, wäre ich nicht mehr am Leben, Anna. Aber ich lebe noch.
Die letzten fünf Jahre habe ich mir selbst etwas vorgemacht. Ich musste erst nach Argentinien kommen und mich in den Augen dieser anderen S S-Männer sehen, um das zu verstehen. Ich war ein Teil davon. Ich habe versucht, es nicht zu sein, und ich habe versagt. Ich war dabei. Ich trug die Uniform. Ich bin mitverantwortlich.»
Anna Yagubsky
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