Das letzte Experiment
Bataillonsnummer an seinem Kragenabzeichen, und die Gefühle der beiden waren mir nahezu gleichgültig. Wahrscheinlich hatten sie nämlich überhaupt keine. Ein sehr guter Freund von mir, Polizeioberwachtmeister Emil Kuhfeld, ein Unteroffizier bei der Schupo, war als Führer einer Staffel Bereitschaftspolizei bei einem Einsatz in der Frankfurter Allee ums Leben gekommen. Man hatte ihm einen Kopfschuss verpasst, als er versuchte, eine Kommunistendemonstration zu zerstreuen. Ein Nazi-Kommissar auf der fünfundachtzigsten Wache, der mit der Aufklärung des Falles betraut gewesen war, hatte es fertiggebracht, einem Kommunisten den Mord anzuhängen, obwohl so gut wie jeder am Alex wusste, dass er die Aussage eines Augenzeugen zurückgehalten hatte. Dieser Augenzeuge hatte gesehen, wie Kuhfeld von einem S A-Mann mit einem Gewehr niedergeschossen worden war. Am Tag nach dem Mord wurde besagter S A-Mann , ein gewisser Walter Grabsch, tot in seiner Wohnung in der Kadiner Straße aufgefunden. Praktischerweise hatte er Selbstmord begangen.
Kuhfelds Beerdigung war die größte gewesen, die ein Berliner Polizist jemals erhalten hatte. Ich war einer von Emils Sargträgern, und ich wusste, dass die Bataillonsnummer auf Otto Schwarz’ blauem Kragenabzeichen die Nummer der Einheit war, zu der auch Walter Grabsch gehört hatte.
Ich erzählte dem Ehepaar Schwarz, was passiert war, ohne etwas zu beschönigen. Ich versuchte nicht einmal ansatzweise, sie ein wenig auf den Schock vorzubereiten.
«Wir haben den Leichnam Ihrer Tochter Anita gefunden», sagte ich. «Wir glauben, dass sie ermordet wurde. Ich muss Sie deswegen bitten, zur Wache mitzukommen, um die Tote zu identifizieren. Sagen wir morgen früh um zehn Uhr im Polizeipräsidium am Alexanderplatz?»
Otto Schwarz nickte wortlos.
Ich überbrachte nicht zum ersten Mal schlimme Nachrichten. Erst in der vorangegangenen Woche hatte ich einer Mutter in Moabit sagen müssen, dass ihr siebzehn Jahre alter Sohn, ein Schüler des dortigen Gymnasiums, von Kommunisten ermordet worden war, die ihn versehentlich für ein Braunhemd gehalten hatten. «Sind Sie auch wirklich sicher, dass er es ist, Herr Kommissar?», hatte sie mich unter Tränen mehr als einmal gefragt. «Sind Sie sicher, dass es kein Irrtum ist? Könnte es nicht jemand anderes sein?»
Herr und Frau Schwarz hingegen schienen die Nachricht vom Tod ihrer Tochter mit beinahe stoischer Ruhe aufzunehmen.
Ich sah mich erneut in der Wohnung um. In einem Rahmen über der Tür hingen Stickereien. Ein Zitat aus
Mein Kampf
in rotem Faden gestickt. Ich war nicht überrascht, diesen Spruch hier zu sehen. Überrascht war ich jedoch, weil ich nirgends Fotos der Tochter, Anita, entdecken konnte. Die meisten Eltern haben doch wenigstens ein oder zwei Fotos ihrer Kinder an den Wänden oder auf dem Kaminsims.
«Wir haben natürlich das Foto, das Sie uns gegeben haben, in unseren Unterlagen», sagte ich. «Deswegen sind wir ziemlich sicher,dass es sich um Ihre Tochter handelt, wie ich fürchte. Trotzdem würde es uns helfen, wenn Sie uns noch ein paar Bilder geben könnten.»
«Helfen?», fragte Otto Schwarz stirnrunzelnd. «Das verstehe ich nicht. Anita ist doch tot, oder nicht?»
«Es würde uns helfen, den Mörder zu fassen», sagte ich kalt. «Irgendjemand hat sie vielleicht mit ihm zusammen gesehen.»
«Ich gehe und sehe nach, was ich finden kann», sagte Frau Schwarz und verließ den Raum. Sie war sehr gefasst und schien nicht besonders aufgeregt.
«Ihre Frau hält sich sehr tapfer», sagte ich.
«Meine Frau ist Krankenschwester in der Charité», sagte er. «Ich nehme an, sie ist daran gewöhnt, schlechte Nachrichten zu hören. Abgesehen davon haben wir bereits mit dem Schlimmsten gerechnet.»
«Tatsächlich, mein Herr?» Ich sah Grund an, der meinen Blick böse erwiderte und sich dann abwandte.
«Wir bedauern Ihren Verlust, Herr Schwarz», sagte er. «Wir bedauern ihn wirklich aufrichtig. Es wäre erforderlich, dass Sie beide morgen früh zum Präsidium kommen. Falls es Ihnen morgen früh nicht passt, können wir den Termin selbstverständlich auf einen anderen Tag verschieben.»
«Ich danke Ihnen, Herr Grund, aber morgen früh ist es uns recht.»
Grund nickte. «Ich verstehe, dass sie die Sache bald hinter sich bringen wollen», sagte er. «Sie haben wahrscheinlich recht. Danach können Sie anfangen zu trauern.»
«Ja. Ich danke Ihnen, Herr Grund.»
«Was für eine Behinderung hatte Ihre Tochter?», fragte ich.
«Sie war
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