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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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auf.»
    Während wir warteten, wetterte Heinrich gegen die Stricher in der Passage. «Russische Feen!», schimpfte er.
    Unmittelbar nach der bolschewistischen Revolution waren viele Berliner Prostituierte, Männer
und
Frauen, Russen gewesen. Doch das stimmte längst nicht mehr, und ich gab mir größte Mühe, Heinrichs Geschimpfe zu ignorieren. Es war nicht so, dass mir etwas an Homosexuellen lag. Aber ich verabscheute sie auch nicht.
    Otto Schwarz kam zur Tür und ließ uns ein. Wir zeigten ihm unsere Kripo-Marken und stellten uns vor, und er nickte, als hätte er uns erwartet. Er war ein großer Mann mit einem Bauch, der aussah, als wäre eine Menge Geld in ihm verschwunden. Sein blondes Haar war an den Seiten sehr kurz geschnitten und auf dem Kopf lockig. Unter einer Schweinsnase, die von einer dicken Narbe beinahe zweigeteilt war, klebte ein fast unsichtbar schmaler Schnurrbart. Er erinnerte mich stark an Ernst Röhm, den Chef der SA, und dieser erste Eindruck wurde noch verstärkt durch die Uniform, die er trug – illegalerweise. Nazi-Uniformen waren seit Juni 1930 verboten, und erst diesen April hatte Reichspräsident von Hindenburg die SA und die SS aufgelöst in dem Bemühen, den Nazi-Terror in Berlin in den Griff zu bekommen. Ich kannte mich nicht aus mit den Schulterstücken und Krageninsignien auf den Uniformen, aber ich hatte ja Grund bei mir. Er betrieb höfliche Konversation mit Schwarz, währendwir die Treppe hinaufstiegen. Wir erfuhren, dass Schwarz nicht nur Oberführer der SA, sondern auch, dass sein Dienstrang einem Brigadegeneral der Armee ebenbürtig war. Ich wollte mich schon in das Gespräch einmischen und ihn fragen, was ein Oberführer der SA zu Hause zu suchen hatte, wo es doch draußen immer noch reichlich Kommunisten zu lynchen und Scheiben einzuwerfen gab. Doch weil ich Schwarz darüber in Kenntnis zu setzen hatte, dass seine Tochter tot war, gab ich mich vorläufig mit der Bemerkung zufrieden, dass er die Uniform einer verbotenen Organisation trug. Die Berliner Polizei hätte nichts gesagt. Andererseits war das kein Wunder – die Hälfte der Berliner Polizisten waren Nazis. Die meisten meiner Kollegen schienen es gutzuheißen, dass das Land langsam, aber sicher zu einer Diktatur wurde.
    «Sie wissen, dass es seit dem 14.   April dieses Jahres verboten ist, diese Uniform zu tragen, oder nicht, Herr Schwarz?», sagte ich.
    «Das spielt doch wohl kaum noch eine Rolle. Das Verbot wird in Bälde aufgehoben werden.»
    «Bis zu diesem Augenblick ist das Tragen illegal, Herr Schwarz. Allerdings will ich unter den gegebenen Umständen ein Auge zudrücken.»
    Schwarz verfärbte sich ein wenig und ballte die Fäuste, eine nach der anderen. Er biss sich auf die Lippe. Er stieß die Wohnungstür auf. «Bitte treten Sie ein, die Herrschaften», sagte er steif.
    Die Wohnung war ein Schrein. Ein Schrein für Adolf Hitler. In der Diele hing ein Porträt von ihm in einem ovalen Rahmen, und im Wohnzimmer hing ein weiteres, diesmal in einem rechteckigen Rahmen. Auf einem Büchergestell auf der Anrichte lag aufgeschlagen eine Ausgabe von
Mein Kampf
gleich neben der Familienbibel. Dahinter war eine weitere gerahmte Fotografie aufgestellt, die Otto Schwarz und Adolf Hitler zeigte. Beide trugen lederne Fliegerhelme und saßen mit grinsenden Visagen vorn in einem riesigen offenen Mercedes, als hätten sie soeben das ADA C-Eifelrennen gewonnen, und zwar in Rekordzeit. Neben einem der Lehnsessel lagen ein DutzendAusgaben des
Stürmer
auf dem Fußboden, einer vehement antisemitischen Zeitung. Ich hatte Wahlplakate von Adolf Hitler gesehen, die weniger nationalsozialistisch waren als das Heim der Familie Schwarz.
    Mit ihren blonden Haaren, ihren blauen Augen und den großen Brüsten sah Frau Schwarz aus wie die typische Nazigattin. Als sie sich bei ihrem Mann unterhakte, erwartete ich fast, dass beide als nächstes «Deutschland erwache!» und «Tod den Juden» rufen und dann das Horst-Wessel-Lied anstimmen würden. Sie waren wirklich wie eine Karikatur. Frau Schwarz trug ein Dirndlkostüm mit traditionellen Stickereien, eine engsitzende Spitzenbluse und Schürze. Ihr Gesicht drückte eine Mischung aus Angst und Feindseligkeit aus.
    Schwarz legte seine Hand auf die seiner Frau. Ich hätte ihnen gern gesagt, dass ich ihre Tapferkeit bewunderte und dass sie mein Mitgefühl hatten. Die Wahrheit war aber, dass ich sie nicht bewunderte und auch kaum Mitgefühl empfand. Ich sah die illegale Naziuniform und die

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