Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
«Sieht so aus, als würde sich unser stellvertretender Polizeipräsident für den Fall interessieren.» In der Akte lag ein Foto. Ein ziemlich altes, doch es gab keinen Zweifel. Die Vermisste war unsere Tote aus dem Park. «Vielleicht kennt er den Vater des Mädchens.»
    «Ich kenne diesen Mann», brummte Grund.
    «Wen? Schwarz?»
    «Nein. Diesen Mann dort.» Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann mit der Verletzung im Gesicht. «Das ist ein Alphonse.» Alphonse war Berlinerisch für Zuhälter. Genau wie Schmierer, Strichmann, Ludwig und noch einige andere Bezeichnungen. «Er betreibt eine von diesen falschen Kliniken in einer Nebenstraße vom Ku’damm. Ich glaube, er gibt sich als Arzt aus und ‹verschreibt› seinen so genannten Patienten minderjährige Mädchen.» Grund wandte sich zu Stahlecker. «Hey, Bruno? Wie heißt dieser Mann? Der mit der dicken Brille und dem Striemen im Gesicht?»
    «Das? Das ist Dr.   Geise.»
    «
Doktor
Geise, meine Fresse! Sein richtiger Name lautet Koch, Hans-Theodor Koch, und er ist genauso wenig Arzt wie ich! Er ist ein Zuhälter. Ein Medizinmann, der alte Perverse mit minderjährigen Mädchen versorgt.»
    Der Mann sprang auf. «Das ist eine verdammte Lüge!», schrie er.
    «Lass ihn die Aktentasche öffnen», sagte Grund. «Wollen doch sehen, ob ich gelogen habe.»
    Stahlecker sah den Mann an, der seine Aktentasche an die Brust gedrückt hielt, als hätte er tatsächlich etwas zu verbergen. «Nun, mein Herr? Würden Sie bitte die Tasche öffnen?»
    Zögernd ließ der Mann sich die Aktentasche von Stahlecker aus den Händen nehmen. Der Beamte öffnete sie und sah hinein. Wenige Sekunden später lag ein Stapel pornographischer Magazine auf dem Schreibtisch des Beamten vom Dienst, mehrere Dutzend Exemplare derselben Ausgabe. Das Magazin nannte sich
Figaro
, und auf dem Titel waren sieben nackte Knaben und Mädchen von zehn bis elf Jahren zu sehen, die auf den Ästen eines toten Baums hockten wie ein Schwarm kleiner weißer Vögel.
    «Alter Perverser!», schnaubte eines der Stiefelmädchen.
    «Das lässt die Sache unvermutet in einem völlig neuen Licht erscheinen, mein Herr», sagte Stahlecker zu Koch.
    «Das ist ein Magazin für Freikörperkultur!», begehrte Koch auf. «Es beschäftigt sich mit natürlicher Nacktheit, weiter nichts. Es beweist nichts von dem, was dieser abscheuliche Mann dort behauptet!»
    «Es beweist zumindest eine Sache», sagte das Stiefelmädchen mit der Gerte. «Es beweist, dass du dir gern schmutzige Bildchen von kleinen Jungen und Mädchen ansiehst.»
    Wir ließen sie in hitzigem Streit zurück.
    «Was habe ich dir gesagt?», wandte sich Grund an mich, während wir zum Wagen gingen. «Diese ganze Stadt ist eine Hure, und deine geliebte Republik spielt den Zuhälter. Wann wachst du endlich auf und kapierst das, Bernie?»
     
    In der Behrenstraße angekommen, parkte ich den Wagen vor einer verglasten Arkade, die zur Allee Unter den Linden führte. Die Arkade wurde auch «Hintereingang» genannt, weil sich hier eine Menge Berliner Strichjungen herumtrieb. Sie waren leicht zu erkennen an ihren engen kurzen weißen Hosen, Seemannshemdchen und den Schirmmützen, die viele von ihnen trugen, um jünger zu erscheinen für ihre Kundschaft im mittleren Alter – die «Baumstümpfe», die vor den Schaufenstern der Antiquitätenläden in der Passage flanierten, bis sie ihre Wahl getroffen hatten.
    Es war ein warmer Abend. Meiner Schätzung nach hatten sich wenigstens achtzig oder neunzig der sinnlichsten Jungen der Stadt eingefunden und wanderten unter dem berühmten Reemtsma-Zeichen umher, einer der wenigen Zigarettenmarken, die die Nazis noch nicht zerschlagen hatten. Die Sturmtruppen hatten ihre eigene Zigarettenmarke, Trommler.
    Wenn die SA auftauchte, würden die süßen Jungs Fersengeld geben müssen, oder sie riskierten eine heftige Tracht Prügel, vielleicht auch Schlimmeres. Die SA hasste Homosexuelle beinahe genauso sehr, wie sie Kommunisten und Juden hasste.
    Wir fanden die Wohnung der Familie Schwarz in einem schickenneoklassizistischen Gebäude über einem Café. Ich zog an der polierten Messingglocke, und wir warteten. Nach einer Minute vernahmen wir eine Männerstimme über uns. Wir traten einen Schritt auf das Trottoir zurück und sahen Herr Schwarz oben am Fenster.
    «Was gibt’s?»
    «Herr Schwarz?»
    «Ja.»
    «Wir sind von der Polizei, Herr Schwarz. Dürfen wir nach oben kommen?»
    «Ja. Warten Sie dort. Ich komme runter und mache Ihnen

Weitere Kostenlose Bücher