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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Unterschied, dass
Der Angriff
den Namen nicht liebevoll meinte, sondern antisemitisch. Es störte Isidor allerdings nicht im Geringsten.
    «Hat er gesagt, was er will?», fragte ich, obwohl ich mir die Antwort ziemlich genau denken konnte.
    «Nein.»
    «Welche Uhrzeit ist ‹gleich morgen früh als Erstes› dieser Tage bei Isidor?»
    «Acht Uhr.»
    Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stöhnte. «Damit wäre mein Abend ja wohl gelaufen.»
     
    Er war klein, hatte einen schmalen Schnurrbart, eine lange Nase und trug eine kleine runde Brille. Sein Haar war dunkel und glatt zurückgekämmt über einer klugen Stirn. Er hatte einen ordentlich geschnittenen Dreiteiler an, Gamaschen und – im Winter – einen Mantel mit Fellkragen. Seine jüdische Abstammung wurde von seinen Feinden gern zur Karikatur überzeichnet. Dr.   Bernhard Weiß war eine merkwürdige Gestalt inmitten der anderen Berliner Polizeibeamten. Heimannsberg, der ihn um einen Kopf überragte, entsprach eher der öffentlichen Vorstellung darüber, wie ein hoher Polizeibeamter auszusehen hatte. Isidor hatte mehr von einem Juristen, und er war tatsächlich früher Richter an einem Berliner Gericht gewesen. Doch Uniformen waren ihm beileibe nicht fremd; er war mit einem Eisernen Kreuz Erster Klasse aus dem Weltkrieg zurückgekehrt. Isidor gab sich die denkbar größte Mühe, wie ein hartgesottener Kriminaler aufzutreten, doch es funktionierte nicht. Er trug niemals eine Waffe, woran nicht einmal der Zwischenfall mit dem Streifenpolizisten etwas hatte ändern können, der den stellvertretenden Polizeipräsidenten angeblich mit einem Kommunisten verwechselt und ihn zusammengeschlagen hatte. Isidor zog es vor, seine Kämpfe mit Worten auszutragen, einer furchterregenden Waffe. Sein Sarkasmus war so ätzend wie Batteriesäure, und weil er umgeben war von Männern mit viel geringeren intellektuellen Fähigkeiten, hatte er viele Opfer. Das trug nicht zu seiner Beliebtheit bei. Den meisten Männern in seiner Position wäre das gleichgültig gewesen, doch weil es in vergleichbaren Positionen niemand anderes gab, der wie er jüdisch war, machte es ihm schon etwasaus, dass er kaum Vertraute hatte. Die fehlende Popularität machte ihn verwundbar. Ich für meinen Teil mochte ihn, und er mochte mich. Isidor war in Deutschland die treibende Kraft für die Modernisierung der Polizei gewesen. Äußerer Anlass war die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau gewesen.
    Es heißt, dass jeder Rechte in Deutschland ein wasserdichtes Alibi für jenen 24.   Juni 1922 hatte, an dem Rathenau, ein Jude, ermordet worden war. Ich für meinen Teil hatte im Romanischen Café gesessen, in mein Glas gestarrt und mich in Selbstmitleid ergangen, weil meine Frau drei Monate vorher gestorben war. Ich war wegen des Mordes an Rathenau der Berliner Polizei beigetreten. Isidor wusste das. Ich denke, auch deshalb schätzte er mich.
    Sein Büro am Alex erinnerte an das eines Universitätsprofessors. Er saß vor einem großen Bücherregal voll mit gerichtsmedizinischen und juristischen Werken, von denen er wenigstens eines selbst geschrieben hatte. An der Wand hing eine Karte von Berlin mit roten und braunen Stecknadeln, die die politischen Unruhen verorteten. Die Karte sah aus, als hätte sie die Masern, so viele Nadeln steckten darin. Auf seinem Schreibtisch lagen mehrere Stapel Papier, daneben standen zwei Telefone und ein Aschenbecher, in den er die Asche seiner Black-Wisdom-Havannas abstreifte, sein einziger Luxus.
    Er stand unter enormem Druck, wie ich wusste. Das kam daher, dass die Republik selbst unter enormem Druck stand. In den Märzwahlen hatten die Nazis die Zahl ihrer Sitze im Reichstag verdoppelt. Sie waren mit elfeinhalb Millionen Wählerstimmen inzwischen zur zweitstärksten Partei geworden. Der Reichskanzler Heinrich Brüning versuchte die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, doch bei einer Arbeitslosenzahl von fast sechs Millionen, die immer noch weiter stieg, erwies sich dies als nahezu unmögliches Unterfangen. Es war unwahrscheinlich, dass Brüning politisch überleben würde. Hindenburg blieb der Präsident der Weimarer Republik. Doch der aristokratische alte Mann hatte wenigSympathie für Brüning. Und wenn Brüning abdankte, was dann? Von Schleicher? Von Papen? Groener? Hitler? Deutschland gingen allmählich die starken Männer aus, die imstande waren, das Land zu führen.
    Isidor bedeutete mir, in einem Sessel Platz zu nehmen, ohne von dem Schreiben aufzublicken,

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