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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Polizeiwissenschaften in Charlottenburg und leitender Rechtsmediziner am Alex. Er war außerdem ein prominentes Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Deswegen und wegen anderer vermeintlicher Charaktermängel war er vor kurzem im
Angriff
, der Nazi-Zeitung von Berlin, von Goebbels öffentlich niedergemacht worden. Illmann war kein Jude, doch für die Nazis gab es kaum etwas Übleres als liberale Intellektuelle.
    «Illmann?»
    «Professor Illmann. Irgendwelche Einwände?»
    Grund sah hinauf zum Mond, als flehte er ihn um Geduld an. Das weiße Licht ließ sein blondes Haar silbern glänzen, und seine blauen Augen sahen beinahe aus wie elektrisch. Er hatte etwas Hartes, Metallisches, ja, Grausames an sich. Er drehte den Kopf und starrte mich an wie einen seiner bemitleidenswerten Gegner imRing – als wäre ich Angehöriger einer unterlegenen Spezies, die nicht geeignet war, sich mit jemandem wie ihm zu messen.
    «Du bist der Chef», sagte er und gab mir die Pille zurück.
    Für wie lange noch?
, fragte ich mich.
     
    Wir fuhren zurück zum Alex. Das vierstöckige Präsidium war mit den Kuppeln und dem Portal so groß wie ein Bahnhof. In der doppelstöckigen Eingangshalle herrschte auch fast so viel Betrieb wie auf einem Bahnhof. Es ging zu wie in einem Taubenschlag. Ein Betrunkener mit einem blauen Auge stand auf unsicheren Beinen und wartete darauf, für die Nacht weggesperrt zu werden. Ein Taxifahrer erstattete eine Anzeige gegen einen Fahrgast, der nicht bezahlt hatte. Ein schmaler junger Mann in engen weißen Hosen saß still in einer Ecke und überprüfte mit einem Handspiegel sein Make-up, und ein Brillenträger mit Aktentasche und einem leuchtend roten Striemen im Gesicht stand abwartend herum.
    Am Empfangsschalter von der Größe eines Bunkers überprüften wir ein Journal, in dem sämtliche Vermisstenanzeigen eingetragen waren. Der wachhabende Beamte, der uns dabei helfen sollte, hatte einen dicken Schnurrbart und trug eine blaue Schirmmütze. Ihm gingen die Augen fast über, als einer unserer Kollegen mit zwei hochgewachsenen Stiefelmädchen in Handschellen die Halle betrat. Die beiden trugen schenkelhohe schwarze Lederstiefel und rote Ledermäntel, die sie umsichtigerweise nicht zugeknöpft hatten, sodass jeder, den es interessierte, sehen konnte, was sie darunter trugen, nämlich nichts. Eine der beiden hielt noch eine Reitgerte in der Hand, und der verhaftende Beamte, Bruno Stahlecker mit seiner Augenklappe, hatte alle Mühe, das Mädchen zu überreden, ihm die Gerte zu geben. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden Damen einen im Tee hatten, und während ich das Vermisstenjournal durchblätterte, belauschte ich mit halbem Ohr den kleinen Dialog zwischen Stahlecker und den beiden Nutten. Ich hätte mich wirklich überwinden müssen, wegzuhören.
    «Ich mag Männer in Uniform», sagte die größere der beiden Amazonen. Sie klopfte, so gut es ging, mit der Gerte gegen ihren Stiefelschaft. «Na, welcher von Berlins Bullen möchte heute Nacht mein Lustsklave sein?»
    Stiefelmädchen waren Berlins Freiluft-Dominas. Sie arbeiteten hauptsächlich am Wittenbergplatz in der Nähe des Zoologischen Gartens, doch Stahlecker hatte seine beiden Nutten in der Friedrichstraße aufgesammelt, nachdem ein Mann Anzeige erstattet und behauptet hatte, er sei von zwei Frauen in Lederbekleidung geschlagen und ausgeraubt worden.
    «Benimm dich, Birgit», ermahnte Stahlecker sie. «Oder ich setze noch Verstoß gegen Gesundheitsauflagen auf die Liste.» Er wandte sich zu dem Mann mit dem Striemen im Gesicht. «Sind das die beiden Frauen, die Sie ausgeraubt haben?»
    «Ja», antwortete der Mann. «Eine hat mir mit der Gerte ins Gesicht geschlagen und Geld verlangt.»
    Die beiden Nutten beteuerten ihre Unschuld. Unschuld hatte noch nie so verrucht ausgesehen.
    Endlich hatte ich gefunden, wonach ich suchte. «Anita Schwarz», las ich vor und zeigte Heinrich Grund den Eintrag. «Fünfzehn Jahre alt. Behrenstraße 8, Wohnung 3.   Die Vermisstenmeldung wurde von Anitas Vater, Otto Schwarz, aufgegeben. Zeitpunkt des Verschwindens: gestern. Eins sechzig groß, blondes Haar, blaue Augen, Schiene am linken Bein, benutzt einen Gehstock. Das ist unsere Tote, keine Frage.»
    Doch Grund hatte kaum zugehört. Ich nahm an, dass er sich an der Gratis-Peepshow erfreute. Ich ließ ihn machen und suchte in einem der Aktenschränke den entsprechenden Vorgang. Auf der Akte prangten ein Stern und daneben ein großes W. «Hoppla», sagte ich.

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