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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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zweifellos an den Fall Haarmann. Das hier ist etwas ganz anderes.»
    «Also vielleicht jemand aus dem medizinischen Bereich», dachte ich laut nach. «Schließlich fand die Tat auch in der Nähe des Städtischen Krankenhauses statt.»
    «Höchstwahrscheinlich», stimmte mir Illmann zu. «Zudem haben Sie die Pille dort gefunden.»
    «Stimmt. Haben Sie herausfinden können, um was für eine Pille es sich handelt?»
    «Mir ist eine Tablette in dieser Zusammensetzung noch nie begegnet. Es handelt sich bei dem Wirkstoff um eine Sulfongruppe,an eine Aminogruppe angehängt. Doch die Verbindung ist neuartig. Ich weiß nicht einmal, wie das heißt, Bernie. Sulfonamide? Ich habe keine Ahnung. Der Wirkstoff ist jedenfalls nicht im aktuellen amtlichen Arzneimittelbuch aufgeführt. Nicht hier und auch sonst nirgendwo. Was bedeutet, dass er neu ist. Ergebnis eines Experiments.»
    «Haben Sie eine Idee, wozu der Wirkstoff gut sein könnte?»
    «Die aktive Sulfongruppe wurde 1906 erstmalig synthetisch hergestellt und wird seither in großem Maßstab in der Farbenindustrie eingesetzt.»
    «Farbenindustrie?»
    «Ich nehme an, dass es eine kleinere aktive Gruppe in dem färbenden Molekül gibt. Vor etwa fünfzehn Jahren hat das Institut Pasteur in Paris mit Sulfonamiden als Basis für antibakterielle Substanzen gearbeitet. Leider brachten die Forschungen keine brauchbaren Ergebnisse. Diese Pille deutet jedoch darauf hin, dass jemand, möglicherweise hier in Berlin, erfolgreich ein sulfonaminbasiertes Medikament herstellt.»
    «Ja, aber wozu verwendet man diese Sulfonamide?»
    «Gegen bakterielle Infektionen. Gegen Streptokokken. Allerdings müsste man den Wirkstoff zunächst an Freiwilligen testen, bevor man Resultate publiziert, insbesondere weil im Institut Pasteur der Einsatz dieses Wirkstoffs keine Ergebnisse brachte.»
    «Vielleicht ein experimentelles Medikament, das im Städtischen Krankenhaus getestet wird?»
    «Könnte sein.» Illmann nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte den Stummel in einem kleinen Porzellanaschenbecher aus, der eigens für die Polizeiausstellung von 1926 entworfen worden war. Der Gerichtsmediziner schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann überlegte er es sich offenbar anders und schwieg.
    «Nein, nein, bitte sagen Sie, was Sie denken», forderte ich ihn auf.
    «Ich hatte nur eben überlegt, warum jemand ein Medikament in Berlin erproben wollte.» Er schüttelte den Kopf. «An welcher Krankheit leidet die Berliner Bevölkerung?»
    «Da müssten Sie einmal die Polizeigazetten lesen, Doktor», sagte ich. «Statt diesem Schmierblatt
Angriff
. Es gibt heutzutage über einhunderttausend Prostituierte in Berlin. Mehr als in jeder anderen europäischen Stadt. Und da sind nur die weiblichen mitgezählt. Gott allein weiß, wie viele warme Brüder es gibt. Mein Assistent Heinrich Grund schimpft den lieben langen Tag darüber.»
    «Natürlich!», sagte Illmann. «Geschlechtskrankheiten!»
    «Seit dem Krieg ist die Zahl der Erkrankten gewaltig gewachsen», sagte ich. «Ich hatte zwar noch nie Syphilis, aber die Krankheit wird gegenwärtig mit Neosalvarsan behandelt, habe ich recht?»
    «Das ist richtig. Salvarsan enthält organisch gebundenes Arsen, was die Verwendung nicht ganz ungefährlich macht. Trotzdem war es damals eine sehr bedeutsame Entdeckung und ein effizientes Medikament – vorher hat es überhaupt kein Heilmittel gegeben   –, sodass Salvarsan auch Zauberkugel genannt wird. Es war eine deutsche Entdeckung. Paul Ehrlich erhielt dafür 1908 den Nobelpreis. Er war ein außergewöhnlich begabter Mann.»
    «Könnte er   …?»
    «Nein, nein, Ehrlich ist tot, leider. Interessanterweise sind sowohl Salvarsan als auch Neosalvarsan farbstoffbasierte Substanzen. Und genau darin liegt das Problem. In der Farbe, meine ich. Das scheinen eben die Vorteile dieser neuen Verbindung zu sein. Jemand muss herausgefunden haben, wie er die Farbe entfernt, ohne die antibakterielle Wirksamkeit zu schwächen.» Er nickte, als notierte er sich die chemischen Formeln vor seinem geistigen Auge. «Genial. Einfach genial.»
    «Nehmen wir also an, das neue Medikament wird hier in Berlin getestet», sagte ich. «An Patienten mit Geschlechtskrankheiten, Tripper oder Syphilis oder beidem zusammen?»
    «Wenn es gegen das eine wirkt, dann könnte es auch gegen das andere wirken.»
    «Wie viele Patienten würde man für einen Test benötigen?»
    «Zu Anfang nicht mehr als ein paar Dutzend. Höchstenfalls hundert.

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