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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Selbstverständlich müsste alles höchstvertraulich behandelt werden. Kein Arzt darf Auskunft über die Erkrankung seiner Patienten geben. Nicht nur das – falls es wirkt, ist so ein Medikament mehrere Millionen Mark wert. Die klinischen Tests sind mit großer Wahrscheinlichkeit absolut geheim.»
    «Wie würde die Klinik Freiwillige auftreiben?»
    Illmann zuckte die Schultern. «Die Behandlung mit Neosalvarsan ist kein Spaziergang, Bernie. Die schrecklichen Geschichten, die man über das Medikament hört, sind leider wahr. Deswegen würde ich meinen, dass es genug Kranke gibt, die lieber ein neues Medikament testen würden.»
    «In Ordnung. Angenommen, unser Mann hat sich bei einer Nutte irgendetwas eingefangen. Er ist deshalb wütend auf alle Frauen – so sehr, dass er sie umbringen will. Zwischenzeitlich meldet er sich zu einem Medikamententest an, um seinen Johannes wieder in Ordnung bringen zu lassen.»
    «Aber wenn er sich bei einer Nutte angesteckt hat, warum tötet er dann nicht eine Nutte?», fragte Illmann. «Warum ausgerechnet ein Kind?»
    «Nutten sind zu ausgekocht. Ich hab erst kürzlich wieder welche auf dem Revier gesehen. Die sind gebaut wie Ringer. Irgendein Kerl kam rein und wollte sie anzeigen, weil zwei Nutten ihn überfallen hätten. Eine der beiden hatte ihn mit der Reitgerte verprügelt.»
    «Manche Männer würden gutes Geld für eine derartige Behandlung bezahlen.»
    «Worauf ich hinauswill: Unser Mann tötet Anita Schwarz, weil sie die einfachere Beute ist. Sie kann nicht gut gehen. Sie entkommt ihm nicht so leicht. Andererseits hat er es vielleicht nicht mal bemerkt. Schließlich war es dunkel.»
    «In Ordnung», räumte Illmann ein. «Es wäre möglich. Aber sehr unwahrscheinlich.»
    «Noch eins. Etwas, das ich Ihnen bisher nicht gesagt habe. Ich weiß, dass ich Ihnen vertrauen kann. Es ist eine wirklich heiße Geschichte, also behalten Sie sie bitte für sich. Anita Schwarz mag gehbehindert gewesen sein. Und sie mag gerade erst fünfzehn gewesen sein. Aber es machte ihr offenbar nichts aus, sich ein wenig Taschengeld zu verdienen.»
    «Sie machen Witze!»
    «Einer der Nachbarn sagte, Anita habe ein Problem mit der Moral. Die Eltern wollen nicht darüber reden. Und ich habe nicht gewagt, es auf der Pressekonferenz zu erwähnen nach dem Vortrag, den Isidor mir gehalten hat, von wegen, ich solle die Nazis nicht vergraulen. Aber wir fanden eine fette Rolle Geld in Anitas Manteltasche. Fünfhundert Mark. Die hat sie sicherlich nicht mit Botengängen für irgendein Geschäft in der Nachbarschaft verdient.»
    «Aber Anita Schwarz trug eine Schiene!»
    «Selbst dafür gibt es einen Markt, glauben Sie mir, Doktor.»
    «Mein Gott, was für widerliche Gestalten doch in dieser Stadt leben!»
    «Jetzt klingen Sie wie mein Assistent Heinrich Grund.»
    «Vielleicht haben Sie recht, Bernie. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, die Ermordete auf Syphilis oder Gonorrhö zu testen. Ich werde das sofort nachholen.»
    «Noch eine Sache, Doktor. Was sind das für Farben, über die wir hier reden? Lebensmittelfarben? Haarfarben? Textilfarben?»
    «Organische Farben. Direkte oder substantive Farbstoffe. Sie werden für verschiedene Materialien benutzt. Baumwolle, Papier, Leder, Wolle, Seide, Nylon. Warum fragen Sie?»
    «Ich weiß es nicht, Doktor.» Doch irgendwo, ganz unten in der unaufgeräumten Schublade meines Gehirns, lag eine Idee, das wusste ich. Ich kramte für einen Moment darin herum, dann schüttelte ich den Kopf. «Nein. Nein, es ist wahrscheinlich nichts.»
     
    Der Weg zurück von Charlottenburg führte mich geradewegs vom Kaiserdamm zum Tiergarten. Im Tiergarten gab es wilde Keiler. Man konnte sie grunzen hören, wenn sie sich in ihren Gehegen suhlten. Manchmal quiekten sie auch wie die Bremsen meines alten DKW, wenn sie miteinander kämpften. Wann immer ich diese Geräusche hörte, musste ich unwillkürlich an den Reichstag und den Streit zwischen den Parteien denken. Der Tiergarten war voller Leben – und nicht nur Wildschweine. Es gab Bussarde, Spechte, Bachstelzen, Zeisige und Fledermäuse – jede Menge Fledermäuse. Der Duft nach gemähtem Gras und Blumen, der durch das offene Fenster in meinen Wagen drang, war einfach herrlich. Es war der saubere, unschuldige Duft nach Frühsommer. In dieser Jahreszeit war der Tiergarten bis zum Einbruch der Dämmerung geöffnet, was ihn auch bei den «Grashüpfern» beliebt machte – den Amateurprostituierten ohne Zimmer, die es im Gras oder im

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