Das letzte Experiment
auch Straße der Alten Mädchen genanntwurde. Wollte man eine fette Frau – eine richtig fette Frau, so fett wie ein japanischer Sumo-Ringer – ging man in die Landwehrstraße, auch als Fette Straße bekannt. Wer auf Mütter und Töchter stand, ging in die Gollnow- oder Inzeststraße. Rennpferdchen – Mädchen, bei denen man die Peitsche benutzen durfte – waren oftmals in den Schönheits- und Massagesalons um das Hallesche Tor herum anzutreffen. Schwangere Frauen – richtige Schwangere, nicht Mädchen mit Kissen unter den Kleidchen – konnte man in der Münzstraße finden. Sie hatte keinen besonderen Spitznamen – auch deswegen, weil allgemein bekannt war, dass hier jeder bereit war, absolut alles zu verkaufen.
Anders als Grund bemühte ich mich normalerweise, nicht selbstgerecht über Berlins berühmt-berüchtigtes Nachtleben zu urteilen. Was sollten denn die Frauen der knapp zwei Millionen im Krieg gefallenen Männer tun? Nochmal so viele waren durch die Grippe gestorben – einschließlich meiner eigenen Frau. Wie soll es anders zugehen in einem Land, das unzählige russische Einwanderer aufnahm, als dort die bolschewistische Revolution ausgerufen worden war? Ein Land, in dem es eine Inflation und eine Depression gab, in dem Massenarbeitslosigkeit herrschte? Was spielen Konventionen und Moral für eine Rolle, wenn alles andere – Geld, Arbeit, das Leben selbst – sich als wertlos erwiesen hatte? Trotzdem fiel es schwer, sich nicht zu empören, wenn man sah, was sich am nördlichen Ende der Oranienburger Straße abspielte. Man wünschte sich beinahe, ein Feuer würde vom Himmel kommen, um diesem Menschenhandel der übelsten Sorte ein Ende zu bereiten – ausgestoßene, ausgebrannte, heimatlose Prostituierte standen dort, die schrecklichste Art von Elendsprostitution, die man sich vorstellen konnte. Wer eine Einbeinige, eine Einäugige, eine Bucklige oder eine mit hässlichen Narben suchte, der ging zum Nordende der Oranienburger Straße. Sie warteten dort im Schatten, im Eingang des ehemaligen Storchennests, in der alten Kaufhaus-Arkade und manchmal auch im Blauen Strumpf, einem Club an der Ecke Lindenstraße.
Ich suchte eine Hure namens Gerda, und als ich sie nirgendwo auf der Straße entdecken konnte, beschloss ich, es im Blauen Strumpf zu versuchen.
Der Mann an der Tür saß auf einem hohen Barhocker vor der Kasse. Sein Name war Neumann, und er war hin und wieder Informant für mich gewesen. Früher einmal war er Schieber für den Libellen-Ring, ein Syndikat, das seinen Sitz in Charlottenburg hatte. Doch jetzt setzte er keinen Fuß mehr in diese Gegend, weil er seine Bosse irgendwie reingelegt hatte. Für einen Türsteher war Neumann nicht besonders groß, doch er hatte ein zerschlagenes, zwielichtiges Gesicht, sodass die Leute glaubten, er sei völlig schmerzfrei. Außerdem (wie ich zufällig wusste) verwahrte er hinter dem Tresen einen Baseballschläger, und er zögerte nicht, diesen auch zu benutzen.
«Kommissar Gunther!», sagte er nervös. «Was führt Sie in den Blauen Strumpf?»
«Ich suche eine Hure.»
Neumann grinste ein kariöses Grinsen, seine Zähne sahen aus wie die weggeworfenen braunen Stummel von zwanzig Zigaretten. «Tun das nicht alle, die hierherkommen, Herr Kommissar?», fragte er.
«Meine ist behindert.»
«Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf so was stehen, Herr Kommissar!» Sein Grinsen wurde immer breiter, weil er glaubte, mich in Verlegenheit gebracht zu haben.
«Hör auf damit, Neumann. Das Einzige, was mich in Verlegenheit bringt, ist der Zustand deines Gebisses. Wie dem auch sei, ihr Name lautet Gerda.»
Die faulen Zähne verschwanden hinter den dünnen, gesprungenen Lippen.
«Sie meinen wie dieses kleine Mädchen, das in der
Schneekönigin
seinen Bruder Kai rettet?»
«Ganz genau. Nur dass Gerda nicht mehr ganz so klein ist. Außerdem fehlen ihr ein Arm und ein Bein, ein paar Zähne und einehalbe Leber. Was ist nun – ist sie hier, oder muss ich erst den Jungs von E Bescheid geben?»
E war Inspektion E, jene Stelle in Abteilung IV, die sich mit der Moral, oder besser gesagt, dem Fehlen derselben befasste. Die Sittenpolizei, kurz gesagt.
«Werden Sie nicht gleich böse, Herr Kommissar. Ich hab doch nur ein Witzchen gemacht, das ist alles.» Er drückte dreimal den Hundeklicker, den er in der Hand hielt. «Haben Sie keinen Sinn für Humor mehr, Herr Kommissar?»
«Nach jeder Wahl etwas weniger.»
In dem Moment wurde die Tür, die hinunter in den Club
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