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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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beliebt war. Es hieß, einige der Mädchen von der Oranienburger hätten früher im Storchennest gearbeitet, bevor der Geschäftsführer jüngere, billigere Nackttänzerinnen aus Polen herangeschafft hatte.
    Freitagabends herrschte noch mehr Betrieb als gewöhnlich, weil sämtliche Juden der Gegend den Gottesdienst in der Neuen Synagoge besuchten, der größten Synagoge in Berlin. Die prachtvolle Zwiebelkuppel war ein Symbol der Zuversicht, welche die Juden Berlins einmal verspürt hatten. Das hatte sich geändert; nach den Worten meines Freundes Lasker trafen einige Juden in der Stadt bereits Anstalten, Deutschland zu verlassen, sollte das Undenkbare geschehen und die Nazis die Wahl gewinnen. Als wir eintrafen, strömten Hunderte durch die in vielfarbenen Ziegeln gemauerten Arkaden in die Synagoge: Männer mit großen Pelzmützenund langen schwarzen Mänteln, Männer mit Schals und Ringellocken, Knaben mit samtenen Scheitelkäppchen, Frauen mit seidenen Kopftüchern – alle unter den wachsamen, leicht verächtlichen Blicken der uniformierten Polizisten, die in Zweiergruppen entlang der Straße postiert waren, für den Fall, dass eine Gruppe von Nazi-Agitatoren beschloss, aufzumarschieren und Ärger zu machen.
    «Jesses!», rief Grund, als wir aus dem Wagen stiegen. «Sieh sich das einer an! Das ist ja wie der verdammte Exodus! Ich hab noch nie so viele verdammte Juden auf einem Haufen gesehen!»
    «Es ist Freitagabend», sagte ich. «Sie gehen nun mal freitags in die Synagoge.»
    «Wie die Ratten!», sagte er mit offensichtlichem Abscheu. «Was dieses Ding angeht   …», er starrte auf die Fassade mit den beiden Türmen und der großen zentralen Kuppel hinauf und schüttelte traurig den Kopf. «Ich fasse es nicht. Wessen dämliche Idee war es bloß, den Bau dieses hässlichen Dings zu genehmigen?»
    «Was stimmt denn nicht damit?»
    «Es gehört nicht hierher, das ist es, was nicht stimmt! Wir sind hier in Deutschland. Wir sind ein christliches Land. Wenn sie so ein Ding haben wollen, dann sollen sie verschwinden und es irgendwo anders bauen!»
    «Und wo beispielsweise?»
    «Palästina. Gosen. Was weiß ich. Irgendwo, wo es jede Menge Sand gibt. Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal, solange sie es nicht hier in Deutschland tun, das ist alles. Das ist ein christliches Land hier.»
    Er starrte feindselig auf die zahlreichen Juden, die in der Neuen Synagoge verschwanden. Mit ihren langen Bärten, den weißen Gewändern und schwarzen Mänteln, mit den breitkrempigen Hüten und den dicken Hornbrillen sahen sie aus wie kurzsichtige Pioniere im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts.
    Wir gingen über die Oranienburger in Richtung Friedrichstraße, dorthin, wo die «spezielleren» Huren warteten, nach denen ich suchte.
    «Weißt du, was ich denke, Chef?», sagte Grund.
    «Überrasch mich.»
    «Diese Männer sollten sich eher so anziehen wie wir. Wie richtige Deutsche. Nicht wie Außenseiter. Sie sollten versuchen, sich anzupassen. Auf diese Weise würden die Leute sie vielleicht in Ruhe lassen. Es ist doch nur menschlich, oder vielleicht nicht? Jeder, der anders aussieht, der den Anschein erweckt, als wollte er sich nicht einfügen, der bettelt förmlich um Ärger, verdammt!» Er nickte. «Sie sollten wirklich versuchen, mehr wie ganz normale Deutsche auszusehen.»
    «Du meinst braune Hemden, Schaftstiefel, Schultergürtel und Hakenkreuz-Armbinde? Oder vielleicht Lederhosen und buntes Hemd?» Ich lachte auf. «Ja, ich verstehe. Normal. Klar.»
    «Du weißt, was ich meine, Chef. Wie Deutsche halt.»
    «Ich wusste mal, was das heißt. Damals, in den Schützengräben beispielsweise. Heute bin ich mir nicht mehr sicher.»
    «Das ist genau das, was ich sage, Chef. Die Juden haben alles durcheinandergebracht. Ich denke, das ist der eigentliche Grund, warum die Nazis so stark sind. Weil sie uns eine klare Vorstellung von uns Deutschen geben.»
    Ich hätte erwidern können, dass eben diese vermeintlich klare Vorstellung von uns Deutschen mir überhaupt nicht gefiel, doch ich war nicht in der Stimmung, mit Grund über Politik zu streiten. Nicht schon wieder. Nicht jetzt.
    In Berlin gab es für jeden erotischen Geschmack etwas. Die Stadt war wie ein Menü. Vorausgesetzt, man wusste, wo man suchen und wonach man zu fragen hatte, standen die Chancen gut, dass selbst die absonderlichsten Geschmäcker Befriedigung fanden. Alte Frauen – solche, die in einem Schuhkarton wohnten   –, fand man in der Mehnerstraße, die deshalb

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