Das letzte Experiment
führte, von innen geöffnet. Oben auf dem Absatz einer steilen Treppe stand ein weiterer Spanner – dieser hatte im Gegensatz zu Neumann allerdings Muskeln.
Neumann kicherte. «Verdammte Nazis», sagte er. «Ich weiß genau, was Sie meinen, Herr Kommissar. Alle sagen, dass die Nazis unseren Laden dichtmachen, als erste Amtshandlung.»
«Das will ich hoffen», bemerkte Grund.
Neumann bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. «Gerda ist unten», sagte er steif.
«Wie kommt sie denn mit nur einem Arm und einem Bein die Treppe runter?», fragte Grund.
Neumann sah erst mich, dann Grund an, und grinste wieder breit. «Ziemlich langsam», sagte er und prustete los, und ich fiel in sein Gelächter ein.
Grund lachte nicht. «Sie halten sich wohl für einen Komiker, wie?», fragte er.
«Vergiss es», sagte ich zu Grund und schob ihn durch die Tür in den Club. «Du hast ihm doch praktisch eine Steilvorlage gegeben.»
Gerda war noch keine dreißig, obwohl der, der sie nicht kannte, sie auch leicht für fünfzig hätte halten können. Sie saß in einem Rollstuhl gleich neben der kleinen Bühne, auf der ein Zitherspieler und eine Striptease-Tänzerin einen Wettstreit austrugen, wer gelangweilterdreinblicken konnte. Meiner Einschätzung nach lag die Stripperin vorn. Auf dem Tisch vor Gerda stand eine Flasche Fusel, zweifellos spendiert von dem Kerl, der neben ihr saß und sich bei genauerem Hinsehen als Frau erwies.
«Los, verschwinde», sagte ich zu dem Bubi.
«Versuch dein Glück im Eldorado», sagte Grund und zeigte sicherheitshalber seine Marke. Gerda schien diese Bemerkung lustig zu finden. Das Eldorado war ein Laden für Transvestiten. Der Bubi starrte Grund missmutig an, doch er erhob sich wortlos und zog sich zurück.
Wir setzten uns auf Stühle, die genauso wacklig waren wie Gerdas verbliebene Zähne.
«Ich kenne Sie», sagte sie zu mir. «Sie sind dieser Mann von der Kripo, stimmt’s?»
Ich schob einen Zehner unter die Schnapsflasche.
«Was soll das, mir einen Schein auf den Tisch zu legen? Ich weiß von nichts.»
«Jeder weiß irgendwas, Gerda», sagte ich.
«Vielleicht weiß ich was, vielleicht weiß ich nichts. Wo ist der Unterschied?», sagte Gerda. «Ich bin jedenfalls froh, dass Sie gekommen sind, Herr Kommissar. Ich mag diese Monbijou-Szenen nicht. Sie wissen schon, die Skorpione aus dem Damenclub. Klar, Bettler können nicht wählerisch sein, und ich hätte es sicher mit ihr getan, wenn sie mich freundlich gebeten hätte. Aber ich hab keinen Spaß daran, wenn mir eine Frau zwischen die Beine fasst.»
Ich steckte Gerda eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an. Gerda war dünn, hatte kurzgeschnittenes rötliches Haar, blaue Augen und ein gerötetes Gesicht. Sie trank zu viel, obwohl sie wahrscheinlich eine Menge vertragen konnte. Meistens jedenfalls. Einmal war das nicht der Fall gewesen, und sie war vor die Linie 13 auf der Köpenicker Straße gefallen. Sie hätte leicht sterben können dabei. Stattdessen verlor sie den linken Arm und das linke Bein.
«Jetzt fällt es mir wieder ein!», sagte sie. «Sie haben Ricci Kamm ins Krankenhaus gebracht.» Zufrieden lächelnd fügte sie hinzu: «Dafür sollte man Ihnen das Eiserne Kreuz verleihen, Herr Kommissar.»
«Wie üblich bestens informiert, Gerda.»
Ich steckte mir selbst eine Zigarette an und warf ihr das Päckchen hin. Grund war kein Kind von Traurigkeit, weshalb er ja wahrscheinlich überhaupt erst Nazi geworden war, und hatte sich bereits abgewandt, um die Bühnenshow zu verfolgen.
«Verrate mir eins, Gerda – hast du je ein junges Ding mit einer Beinschiene gesehen, so um die fünfzehn Jahre alt? Blond, jungenhaft, ging am Stock. Ihr Name war Anita. Sie hatte eine zerebrale Lähmung. Eine Spastikerin. Wir wissen, dass sie auf den Strich gegangen ist, weil wir in ihrer Tasche eine Geldrolle fanden und weil die Nachbarn sagen, dass sie es getan hat.»
«Nieta? Ja, ich hab gehört, dass sie tot sein soll, das arme Kind.» Gerda schenkte sich ein Glas aus der Flasche ein und kippte es in einem Zug hinunter wie kalten Kaffee. «War manchmal hier. Nett, gut erzogen, wenn man es bedenkt.»
«Was bedenkt?», fragte Grund. Seine Augen blieben auf den Brüsten der Stripperin, die größer waren, als man es für möglich halten sollte.
«Wenn man bedenkt, dass sie nicht so gut reden konnte.» Gerda machte ein Geräusch, das hauptsächlich aus ihrer Nase kam. «Sie hat durch die Nase gesprochen, so, verstehen Sie?»
«Was
Weitere Kostenlose Bücher