Das letzte Experiment
kannst du uns sonst noch über Anita erzählen?», fragte ich und schenkte ihr noch ein Glas ein und mir selbst auch eins, um gesellig zu wirken.
«Nach allem, was ich mitgekriegt hab, ist sie mit ihren Eltern nicht klargekommen. Es hat ihnen nicht gefallen, dass ihre Tochter im Kopf nicht ganz richtig war, verstehen Sie? Und dass sie auf den Strich gegangen ist, auch nicht. Sie wollte nur ihre Eltern ärgern, glaube ich. Ihr Vater ist irgendein hohes Tier bei den Nazis und inder Partei, und es hat ihm überhaupt nicht gepasst, dass sie auf den Strich gegangen ist.»
«Kaum zu glauben», murmelte Grund. «Dass jemand … du weißt schon. Mit einem behinderten Kind!»
Gerda lachte auf. «O nein, Süßer. Es ist überhaupt nicht schwer zu glauben. Viele Männer tun es mit behinderten Mädchen. Es ist sogar richtig angesagt gerade. Ich schätze, es hat etwas mit dem Krieg zu tun. All diese grauenhaften Verwundungen, mit denen viele Männer nach Hause gekommen sind. Sie fühlen sich ziemlich unzulänglich, in jeder Hinsicht. Ich denke, indem sie sich mit unsereins abgeben, haben sie wieder genügend Selbstsicherheit, um einen hochzukriegen. Sie fühlen sich dem Mädchen überlegen, mit dem sie es treiben. Abgesehen davon ist es obendrein billiger. Billiger als bei einer Normalen. Viele Kerle haben kein Geld mehr für eine Normale. Nicht so wie früher.» Sie warf Grund einen amüsierten, mitleidigen Blick zu. «O nein, Süßer. Ich hab Mädchen gesehen, die nur noch ein halbes Gesicht hatten und hier drin einen Freier gefunden haben. Abgesehen davon sehen einen die meisten Freier sowieso nicht an. Sie sehen dir nicht in die Augen. Es ist gar nicht so wichtig für sie, wie die Visage eines Mädchens aussieht oder ob sie noch alle Tassen im Schrank hat. Wichtig ist lediglich die Tatsache, dass sie ihre Muschi hat.» Gerda lachte auf. «Nein, Süßer, frag irgendeinen deiner Kollegen auf der Arbeit. Sie geben dir alle die gleiche Antwort. Du musst schließlich nicht das ganze Haus besichtigen, wenn du lediglich einen Brief in den Briefkasten stecken willst.»
«Kommen wir zurück zu Anita», sagte ich. «Hatte Anita einen besonderen Kunden, mit dem du sie gesehen hast, Gerda? Einen Stammkunden? Ist dir irgendetwas aufgefallen?»
Gerda grinste. «Sie wollen einen Namen?» Sie legte ihren rissigen Finger auf den Geldschein. «Machen Sie einen Zwanziger draus, und ich verrate Ihnen Vor- und Zunamen.»
Ich zückte meine Brieftasche und legte einen weiteren Zehner auf den Tisch.
«Sie haben recht, Herr Kommissar, es gab da einen speziellen Kerl. Hab ihm selbst das eine oder andere Mal den Lutscher bearbeitet. Aber er stand auf Anita. Sein Name war Serkin, Rudi Serkin. Sie ist sogar ein- oder zweimal in seiner Wohnung gewesen. In einem dieser großen Blöcke auf der Mulackstraße, mit den vielen Ein- und Ausgängen.»
«Du meinst den Ochsenhof?», fragte Grund.
«Ganz genau den.»
«Aber der liegt im Gebiet der Allzeit Getreuen», sagte er.
«Dann nehmen Sie halt einen gepanzerten Wagen.»
Gerdas Bemerkung war kein Witz. Der Ochsenhof war eine Ansammlung von Elendsquartieren im heruntergekommensten Viertel der Stadt und praktisch tabu für die Berliner Polizei. Die einzige Möglichkeit für die Beamten vom Alex, dem Ochsenhof je einen Besuch abzustatten, war die, sich von einem Panzer Rückendeckung geben zu lassen. Sie hatten noch jedes Mal versagt, zurückgeschlagen von Heckenschützen und Benzinbomben. Nicht umsonst hieß der Ochsenhof auch «Grill».
«Wie sieht dieser Rudi Serkin denn aus?», fragte ich.
«Ist ungefähr dreißig. Klein, dunkles, gelocktes Haar, Brille. Raucht Pfeife. Mit Fliege. Ach, und er ist Jude.» Sie kicherte. «Das heißt, zumindest hatte er keine Hülle mehr um seinen Lutscher.»
«Ein Jude!», murmelte Grund. «Hätte man sich ja denken können!»
«Hast du was gegen die Juden, Süßer?»
«Er ist ein Nazi», antwortete ich. «Er hat gegen jeden was.»
Für einen Moment schwiegen wir, und eine Stimme hinter uns fragte laut: «Fertig mit der Unterhaltung oder was?»
Wir drehten uns um und sahen die Stripperin, die uns anstarrte. Gerda lachte. «Ja, wir sind fertig.»
«Gut», sagte die Tänzerin und streifte ihr Höschen in einer raschen und unerotischen Bewegung herunter. Sie beugte sich vor, um sicherzustellen, dass wir alles ganz genau sehen konnten, dannbückte sie sich, sammelte ihre Wäsche ein und stapfte verärgert von der Bühne.
Ich entschied, dass es an der Zeit
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