Das letzte Experiment
Duisberg!», begrüßte er mich salbungsvoll und mit einem leichten Lispeln, das möglicherweise auf schlecht sitzende falsche Zähne hindeutete. «Welch eine Ehre! Ich bin Dr. Kassner.Herr Dr. Domagk wird sehr enttäuscht sein, Sie verpasst zu haben! Er ist zurzeit in Wuppertal.»
«Ja, das hat man mir bereits mitgeteilt.»
Dr. Kassner sah mich gequält an. «Ich nehme an, es hat ein Missverständnis gegeben», sagte er.
«Nein, nein», beruhigte ich ihn. «Ich bin nur zu einem kurzen Besuch in Berlin. Ich hatte ein paar Stunden totzuschlagen zwischen zwei Terminen und dachte, ich komme kurz vorbei und sehe mir an, wie weit die klinischen Versuche inzwischen sind. Die I.G. Farben ist fasziniert von Ihrer Arbeit hier.» Ich zögerte. «Falls ich zu einer unpassenden Zeit gekommen bin …»
«Nein, nein, Herr Dr. Duisberg!» Er verneigte sich. «Falls Sie sich mit mir und meinen einfachen Erklärungen zufriedengeben, heißt das.»
«Ich bin sicher, dass sie für einen Laien wie mich durchaus genügen.»
«Dann kommen Sie bitte hier entlang, Herr Doktor.»
Wir gingen durch die Schwingtüren und gelangten in einen Korridor, in dem ein Dutzend elend dreinblickende Männer auf Stühlen an der Wand saßen und warteten. Jeder von ihnen hielt entweder eine Urinprobe in der Hand – oder vielleicht war das auch das berüchtigt schlechte Berliner Leitungswasser. Kassner geleitete mich in sein Büro, das angemessen spartanisch eingerichtet war. Es gab eine Untersuchungsliege, die Regale waren mit medizinischen Lehrbüchern vollgestopft, daneben ein paar Aktenschränke, und in der Mitte des Raums stand ein kleiner Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch sah ich eine tragbare Bing-Schreibmaschine mit einem eingespannten Blatt Papier sowie ein Telefon. An den Wänden hingen graphische Illustrationen, bei deren Anblick es mir die Hoden zusammenzog – es fehlte nicht viel, und ich hätte ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Ich dachte, dass ich wahrscheinlich der erste Mann seit langem war, der dieses kleine Büro betrat und nicht angewiesen wurde, seine Unterhose auszuziehen.
«Wie viel wissen Sie über unsere Arbeit hier?», fragte Kassner.
«Nur, dass Sie an einer neuen Zauberkugel forschen», sagte ich. «Ich bin kein Mediziner, sondern Chemiker. Farbstoffe sind mein Fachgebiet. Gehen Sie davon aus, dass Sie mit einem gebildeten Laien sprechen.»
«Nun ja – wie Sie wahrscheinlich wissen, sind Sulfonverbindungen synthetische antimikrobielle Substanzen, die Sulfonamide enthalten. Eine dieser Substanzen – ein Stoff namens Prontosil – wurde von Josef Klarer bei Bayer hergestellt und von Dr. Domagk an Tieren getestet. Erfolgreich, wie Sie sich denken können. Seither haben wir die Tests auf eine kleine ambulante Gruppe von Patienten ausgeweitet, die an Syphilis und Gonorrhö leiden. Wir hoffen jedoch, dass sich Prontosil zu gegebener Zeit als wirksames Medikament zur Behandlung einer ganzen Serie bakterieller Infektionen beim Menschen erweisen wird. Eigenartigerweise besitzt es im Reagenzglas keinerlei Wirkung. Seine antibakterielle Aktivität entwickelt sich erst in lebenden Organismen, weshalb wir annehmen, dass die Substanz im Körper erfolgreich verstoffwechselt wird.»
«Wie groß ist Ihre Testgruppe?», fragte ich.
«Wir haben eigentlich gerade erst angefangen. Bis jetzt behandeln wir etwa fünfzig Männer und halb so viele Frauen mit Prontosil – in einer separaten Klinik in der Charité. Einige unserer Testpersonen haben sich gerade erst mit einer Geschlechtskrankheit infiziert, andere leiden schon seit geraumer Zeit daran. Wir beabsichtigen, das Medikament im Verlauf der nächsten zwei bis drei Jahre an fünfzehnhundert bis zweitausend Freiwilligen zu erproben.»
Ich nickte und wünschte mir insgeheim, ich hätte daran gedacht, Illmann mitzubringen. Wenigstens hätte er die angemessenen Fragen stellen können – und vielleicht ein paar unangemessene obendrein.
«Bisher sind unsere Ergebnisse äußerst ermutigend», fuhr Kassner fort.
«Dürfte ich das Medikament einmal sehen?»
Kassner öffnete seine Schublade und nahm eine Flasche hervor. Er schüttete mir ein paar kleine blaue Pillen in die behandschuhte Hand. Sie sahen ganz genauso aus wie die Pille, die ich bei der Leiche von Anita Schwarz gefunden hatte.
«Selbstverständlich wird sie anders aussehen, wenn wir mit unserer Testreihe fertig sind», sagte Kassner. «Die deutschen Gesundheitsbehörden und die Ärzteschaft sind sehr
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