Das letzte Experiment
konservativ und ziehen weiße Pillen vor. Im Augenblick ist Prontosil noch blau, auch um es von anderen Medikamenten zu unterscheiden, die wir einsetzen.»
«Und Ihre Studienergebnisse? Dürfte ich eine Fallstudie sehen?»
«Ja, selbstverständlich.» Kassner drehte sich zu einem der Aktenschränke um. Es gab keinen Schlüssel. Er schob die Rollladenfront hoch und zog die obere Schublade heraus. «Das hier ist eine Zusammenfassung mit kurzen Notizen über sämtliche Patienten, die bisher mit Prontosil behandelt wurden», sagte er, indem er die Akte aufschlug und sie mir übergab.
Ich holte umständlich den Kneifer meines Vaters hervor und klemmte ihn auf meine Nasenwurzel. Das ist meine Liste von Verdächtigen, sagte ich mir. So würde ich den Fall vielleicht schneller lösen, als man einen Schanker kurierte. Aber ich konnte die Liste ja nicht einfach mitnehmen. Und ich konnte sie wohl kaum auswendig lernen. Ein Name jedoch stach mir ins Auge. Oder besser gesagt, nicht der Name – Behrend –, sondern vielmehr die Adresse. Der Reichskanzlerplatz, im westlichen Teil der Stadt, in der Nähe vom Grunewald, war ohne Zweifel eine der exklusivsten Adressen in der Stadt. Und irgendjemand, den ich kannte, wohnte auch dort, aber wer nochmal? «Wie Sie sicherlich wissen …», sagte Kassner, «… besteht das Problem mit Salvarsan darin, dass es nur ein klein wenig toxischer ist für die Mikrobe als für den Wirt. Bei Prontosil Rubrum haben wir bisher kein derartiges Problem finden können. Die menschliche Leber baut es sehr effektiv ab.»
«Sehr gut», murmelte ich, während mein Blick die Liste hinabwanderte. Doch als ich den zweiten Johann Müller entdeckte, dazu einen Fritz Schmidt, einen Otto Schneider, einen Johann Meyer und einen Paul Fischer, kam mir der Verdacht, dass mich diese Liste wahrscheinlich doch nicht weiterbringen würde. Dies waren fünf der am meisten verbreiteten Vor- und Nachnamen in Deutschland. «Verraten Sie mir doch, Dr. Kassner – sind das alles richtige Namen?»
«Um ehrlich zu sein – ich weiß es nicht», gestand Kassner. «Wir bestehen nicht darauf, die Ausweise der Patienten zu sehen, weil sie sich ansonsten wohl niemals freiwillig für die klinischen Tests melden würden. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist ein ganz bedeutsamer Faktor, gerade bei Geschlechtskrankheiten.»
«Ich nehme an, dies gilt ganz besonders, seit die Nationalsozialisten davon reden, dass sie in dieser Stadt aufräumen wollen, wenn sie an die Macht kommen», sagte ich.
«Allerdings sind diese Adressen alle echt. Wir bestehen darauf, dass unsere Patienten eine richtige Briefanschrift hinterlassen, sodass wir mit ihnen noch über einen bestimmten Zeitraum korrespondieren können. Um zu überprüfen, wie es ihnen geht.»
Ich gab ihm die Akte zurück und sah zu, wie er sie in die oberste Schublade des Schranks legte.
«Nun, ich danke Ihnen für Ihre Zeit», sagte ich und erhob mich. «Ich werde selbstverständlich bei der I.G. Farben einen wohlwollenden Bericht über Ihre Arbeiten hier abgeben.»
«Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen, Herr Doktor.»
Wir gingen nach draußen. Carl Mirow schnippte hastig seine Zigarette weg und öffnete mir die schwere Tür. Falls Dr. Kassner Zweifel gehegt hatte bezüglich meiner Identität, so zerstreute der Anblick des luxuriösen Wagens und meines uniformierten Chauffeurs sie auf der Stelle.
Carl fuhr zur Dragonerstraße und setzte mich vor meinem Haus ab. Er war froh, mich endlich los zu sein, und erst recht, die Dragonerstraßehinter sich zu lassen, die kein Ort war, an den man einen Mercedes 770 mit Chauffeur brachte. Ich stieg die Treppe hinauf zu meiner Wohnung, zog mich um und ging wieder nach draußen. Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr in Richtung Weststadt. Mir war ein Gedanke gekommen, dem ich nachgehen wollte.
Reichskanzlerplatz Nummer drei war ein modernes, teuer aussehendes Mietshaus in der reichsten, grünsten Gegend von Berlin. Ein klein wenig weiter im Westen lagen die Pferderennbahn und das Sportstadion, in dem, wie viele Berliner hofften, die Olympischen Spiele 1936 stattfinden sollten. Meine verstorbene Frau war ebenfalls ganz vernarrt gewesen in diese Vorstellung. Südlich der Rennbahn lag das Restaurant Seeschloss, wo ich sie gebeten hatte, meine Frau zu werden. Ich parkte den Wagen, stieg aus und ging zu einem Kiosk, um mir Zigaretten zu kaufen und – wenn möglich – ein paar Informationen einzuholen.
«Ich
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