Das letzte Experiment
kommen?
Ich denke, irgendetwas war nach dem Ersten Weltkrieg mit Deutschland passiert. Man konnte es auf den Straßen von Berlin sehen. Eine Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leiden. Und vielleicht hätten wir es kommen sehen müssen nach all diesen gestörten, dementen, kannibalistischen Massenmördern während der Weimarer Jahre: Die Todeskommandos und die Todesfabriken. Mörder, die geistesgestört waren und zugleich sehr gewöhnlich. Krantz der Schuljunge. Papa Denke der Krämer. Grossmann der Wurstbudenbetreiber. Gormann der Bankkassierer. Ganz gewöhnliche Leute, die Verbrechen mit nie dagewesener Brutalität begingen. Zurückblickend waren sie wie ein Hinweis darauf, was folgen sollte. Die Lagerkommandanten und die Gestapo-Männer. Die Schreibtischmörder und die sadistischen Ärzte. Gewöhnliche Menschen, fähig zu grauenvollen, ungeheuerlichen Dingen. Stille, respektable, Mozart liebende Deutsche, zwischen denen ich gestrandet war und unter denen ich nun leben musste.
Was brauchte es, um Tausende von Kindern zu ermorden, Woche für Woche, tagein, tagaus? Einen gewöhnlichen Menschen? Oder jemanden, der so etwas schon früher getan hatte?
Kurt Christmann hatte ein ganzes Jahr seines Lebens mit dem Vergasen ukrainischer Kinder zugebracht. Bettlägeriger, kranker, hilfloser Kinder. Kinder wie Anita Schwarz. Vielleicht war es beiChristmann mehr gewesen als nur das Befolgen von Befehlen. Vielleicht hatte er tatsächlich eine Abneigung gegen behinderte Kinder gehabt. Vielleicht war Christmanns Abneigung groß genug gewesen, um in Berlin ein junges Mädchen zu ermorden. Er stammte aus München. Ich hatte schon länger den starken Verdacht, dass der Mann, nach dem ich 1932 gesucht hatte, aus München kam.
ZEHN
BERLIN
1932
Zwei Männer warteten neben meinem Wagen auf mich. Sie trugen Hüte und zweireihige Anzüge, bis obenhin zugeknöpft, wie man es so macht, wenn man mehr als einen Füllfederhalter in der Innentasche mit sich herumträgt. Ich sagte mir, dass sie zu weit südlich waren, um von Ricci Kamm zu kommen. Außerdem wirkten sie ein wenig zu elegant. Mitglieder von Kamms Bande hatten gebrochene Nasen und Blumenkohlohren und nicht Uhrenketten und Gehstöcke. Außerdem wirkten sie erfreut, mich zu sehen. Wenn man so lange im Zoo arbeitet wie ich, entwickelt man ein Gespür dafür, wann ein Tier angreift. Es wird ganz nervös und aufgeregt, weil es sich darauf vorbereitet zu töten. Diese beiden Männer jedoch waren ruhig und gelassen.
«Sind Sie Gunther?»
«Kommt drauf an.»
«Worauf?»
«Darauf, was Sie als Nächstes sagen.»
«Jemand will mit Ihnen reden.»
«Und warum ist Jemand dann nicht hier?»
«Weil er im Eldorado auf Sie wartet. Er lädt Sie ein.»
«Hat dieser Jemand auch einen Namen?»
«Herr Diels. Rudolf Diels.»
«Vielleicht bin ich eher ein schüchternes Bürschchen. Vielleicht mag ich das Eldorado nicht. Vielleicht ist es ein wenig zu früh für einen Nachtclub.»
«Aber es ist dort doch gemütlich. Man ist ganz ungestört.Ein stiller Ort, an dem man seinen eigenen Gedanken nachhängen kann.»
«Ich hab immer alle möglichen eigenartigen Gedanken, wenn ich meinen Gedanken nachhänge», sagte ich.
Das Eldorado in der Motzstraße befand sich im Erdgeschoss eines modernen Hauses mit einer Fassade aus Sichtbeton. Wie das alte Eldorado, das in der Lutherstraße immer noch existierte, war das neue ebenfalls ein Travestie-Club und beliebt bei der Berliner High Society, teuren Prostituierten und abenteuerlustigen Touristen, die begierig darauf waren, echte Berliner Dekadenz zu erleben. Das Innere des Clubs war der Nachbau einer chinesischen Opiumhöhle. Nur dass es kein Nachbau war. Sex war ein Grund, das Eldorado zu besuchen, die stete Verfügbarkeit aller möglichen Drogen ein weiterer.
Zu dieser frühren Stunde jedoch war das Lokal mehr oder weniger leer. Die Bernd Robert Rhythmics hatten soeben ihre Probe beendet, und in einer Ecke neben einem kupfernen Gong von der Größe eines Lastwagenrades saßen ein junger Mann mit einer großen Narbe im Gesicht und zwei Mädchen bei einer Flasche Champagner. Dass es Mädchen waren, war nicht nur an den gepflegten Händen und den manikürten Fingernägeln zu erkennen, sondern schlicht auch an ihren primären Geschlechtsmerkmalen – beide Mädchen waren nackt.
Als der Narbengesichtige mich in Begleitung seiner beiden Lakaien im Club auftauchen sah, erhob er sich und winkte mich zu sich. Er war dunkel und hatte ein fliehendes Kinn.
Weitere Kostenlose Bücher