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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Ich schätzte sein Alter auf dreißig. Sein Anzug war offensichtlich maßgeschneidert, und er rauchte eine Zigarre von Gildemann. Seine Lippen sahen aus wie die einer Frau, und seine Augenbrauen waren so ordentlich und fein, als wären sie gezupft und mit einem Stift nachgezogen worden. Seine braunen Augen umgaben lange Wimpern, die Hände waren feingliedrig, und hätte er sich nicht in Gesellschaft nackter Mädchen befunden, ich hätte ihn für einen warmen Bruder gehalten.Er war höflich und hatte gute Manieren, weshalb ich mich fragte, wie er wohl zu der Narbe gekommen war. «Herr Gunther!», sagte er. «Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Das hier sind Fräulein Oloffson und Fräulein Larsson. Sie kommen beide aus Schweden und verbringen ihren Urlaub in Berlin, stimmt es nicht, die Damen?» Er sah sie an. «Irgendwo muss noch eine sein. Fräulein Liljeroth. Ich glaube, sie ist sich die Nase pudern gegangen, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
    Ich machte einen höflichen Diener. «Meine Damen.»
    «Sie versuchen, sich wie wahre Berlinerinnen zu benehmen», sagte Diels. «So ist es doch, meine Damen, nicht wahr?»
    «Nacktheit ist etwas Gutes», sagte eine der Schwedinnen. «Verlangen ist gesund. Meinen Sie nicht?»
    «Hier, setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas», sagte Diels und schob mir ein Glas Champagner hin.
    Es war ein wenig früh am Tag für meinen Geschmack, doch als ich das Etikett und den Jahrgang sah, trank ich dessenungeachtet mit.
    «Was kann ich für Sie tun, Herr Diels?», fragte ich.
    «Bitte nennen Sie mich Rudi. Nebenbei bemerkt, Sie können sich frei äußern vor unseren beiden Freundinnen. Sie verstehen kaum ein Wort Deutsch. Waren Sie schon einmal hier?»
    «Ein- oder zweimal. Aber ich mache mir nichts daraus, immer erst raten zu müssen, ob jemand ein Mann oder eine Frau ist.» Ich nickte in Richtung von Fräulein Oloffson. «Es ist eine angenehme Abwechslung, dass endlich einmal jegliche Zweifel in dieser Hinsicht ausgeräumt sind.»
    «Genießen Sie es besser, solange es noch geht. In einem, höchstens zwei Monaten werden diese Clubs von der neuen Regierung geschlossen. Dieser Raum hier ist bereits als die neue Parteizentrale der Nationalsozialisten in Berlin Süd vorgesehen.»
    «Sie setzen eine Menge stillschweigend voraus, Herr Diels. Schließlich müssten sie vorher noch die Wahl gewinnen.»
    «Da haben Sie recht. Die Nationalsozialisten werden vielleichtkeine absolute Mehrheit im Reichstag erlangen, aber es erscheint mehr als wahrscheinlich, dass sie als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen.»
    «Sie?»
    «Ich bin kein Parteimitglied, Herr Gunther, falls Sie das denken, auch wenn ich der Sache der Nationalsozialisten gegenüber sehr aufgeschlossen bin.»
    «Stammt diese Narbe etwa daher? Von Ihrer Aufgeschlossenheit?»
    Diels berührte ohne jede Scheu seine Wange. «Das?» Er schüttelte den Kopf. «Nein, ich fürchte, es liegt nicht viel Ehre in dieser Verwundung. Ich habe früher viel getrunken. Mehr, als gut für mich war. Manchmal, wenn ich jemanden belustigen oder einschüchtern wollte, habe ich ein Bierglas zerbissen.»
    Auf dem Tisch stand eine Schale mit Früchten. «Ich für meinen Teil ziehe einen frischen, saftigen Apfel vor», sagte ich und steckte mir eine Zigarette an. Indem ich mich in meinem Sessel zurücklehnte, nahm ich unsere beiden Begleiterinnen genauer in Augenschein. Ich genierte mich genauso wenig, sie anzugaffen, wie sie sich genierten, angegafft zu werden.
    «Nur zu, bedienen Sie sich.»
    «Nein danke. Ich würde mich gern auf das Schicksal unserer Republik konzentrieren.»
    «Das ist sehr schade, weil die Tage der Republik nämlich gezählt sind. Wir werden gewinnen.»
    «Also doch ‹wir›. Vor einer Minute noch sagten Sie, Sie wären nicht einmal in der Partei. Ich schätze, so etwas nennt man einen ‹Wechselwähler›.»
    «Nein, nein, ich halte nicht viel von Hitler», sagte er abwehrend. «Ich glaube an Hermann Göring. Er ist eine sehr viel beeindruckendere Gestalt als Adolf Hitler.»
    «Er ist auf jeden Fall eine breitere.» Ich grinste über meinen Witz.
    «Hitler schert sich keinen Deut um Menschenleben», fuhr Diels fort. «Göring ist anders. Ich arbeite für ihn, im Reichstag. Nachdem die Nazis an die Macht gekommen sind, wird Göring der Chef der gesamten deutschen Polizei werden. Kurt Daluege wird Chef der uniformierten Polizei, und ich werde die sehr stark erweiterte Politische Polizei führen.»
    «Erstaunlich, wie viele

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