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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Stadt eine Menge Fälle ungelöst bleiben.»
    «Ich arbeite langsam, ist es das? Damit Goebbels Grzesinski und Weiß beschuldigen kann, die Ermittlungen zu verzögern, weil der Vater des Opfers ein hohes Tier bei der SA ist?»
    «Nein, nichts dergleichen, Herr Gunther. Das Schwarz-Mädchen war behindert. Es hatte ein verkrüppeltes Bein. Wie Goebbels. Es ist ein wenig peinlich für ihn, dass dieses Problem an die Öffentlichkeit gezerrt wird. Es vergrößert sein eigenes Problem, wenn Sie verstehen. Anita Schwarz hatte ein verkrüppeltes Bein, und Joseph Goebbels hat ebenfalls eines. Dr.   Goebbels wäre sehr in Ihrer Schuld, wenn der Fall Anita Schwarz sozusagen in einer Sanddüne steckenbleiben würde.»
    «Ist der Klumpfuß von Goebbels der einzige Grund, weshalb er möchte, dass der Fall nicht gelöst wird?»
    Diels sah mich verwirrt an. «Selbstverständlich. Welchen Grund könnte es denn sonst noch geben?»
    Es erschien mir unangemessen, mit ihm über das wahre Ausmaßvon Goebbels’ gegenwärtigen Behinderungen zu sprechen. «Und was, wenn ein weiteres Mädchen unter ähnlichen Umständen ermordet wird? Was dann?»
    «Dann ermitteln Sie in diesem Fall. Lassen Sie nur von Anita Schwarz ab. Das ist alles, worum ich Sie bitten möchte. Nur bis nach der Wahl.»
    «Um Goebbels nicht in Verlegenheit zu bringen.»
    «Ganz recht.»
    «Ich bekomme der Eindruck, dass hinter dem Fall noch viel mehr stecken könnte, als mir bis jetzt bewusst war.»
    «Es könnte sich als ungesund erweisen, diesen Gedanken zu verfolgen. Für Sie – und für Ihre Karriere.»
    Ich lachte auf. «Meine Karriere? Die lässt mich nachts wirklich nicht ruhen.»
    «Wenigstens sind Sie des Nachts noch wach, Herr Gunther.» Er grinste und blies auf das Ende seiner Zigarre. «Das ist doch schon etwas, meinen Sie nicht?»
    Ich hatte alles gehört, was ich hören musste. Ich streckte die Hand aus, nahm einen hübschen goldgelben Apfel aus der Schale auf dem Tisch und erhob mich.
    Die drei nackten Frauen waren inzwischen mit sich selbst so beschäftigt, dass sie mich gar nicht mehr beachteten. Es war eine richtige Bühnenschau daraus geworden, und manch einer hätte Geld dafür bezahlt, dabeizusitzen und ihnen zuzusehen.
    «Hey!», sagte ich. «Aphrodite.»
    Ich warf den Apfel, und eine der drei fing ihn auf. Natürlich war es die hübscheste der drei Schwedinnen. «Mein Name ist nicht Aphrodite», sagte sie träge. «Ich heiße Gunila.»
    Ich antwortete nicht, sondern ging einfach nach draußen mit meinen Kleidern auf dem Leib und meinem Sinn für Humor und meiner humanistischen Bildung. Mehr als Gunila vorweisen konnte.
    Draußen überquerte ich die Straße und kaufte mir in einem Tabakladen Zigaretten. Vor dem Geschäft standen sechs Männer mitPlakaten, die für die bevorstehende Wahl warben. Einer war für die SPD, zwei waren für Thälmann und seine Kommunisten, und drei waren für Hitler. Alles in allem schienen die Aussichten für die Republik nicht viel besser zu sein als meine eigenen.
     
    Ich war 1932 nicht oft im Kino. Wäre ich öfter ins Kino gegangen, hätte ich mich möglicherweise nicht so leicht überrumpeln lassen. Ich hatte von Fritz Langs
M – Eine Stadt sucht einen Mörder
gehört, weil es in diesem Film einen Ermittler gab, dessen Gestalt angeblich auf Ernst Gennat basierte. Der Volle Ernst jedenfalls war fest davon überzeugt. Doch irgendwie war mir immer wieder etwas dazwischengekommen, und so hatte ich den Film verpasst, als er herausgekommen war. Er lief zwar immer noch im Union Theater in meinem Viertel, doch im Sommer hatte ich irgendwie stets etwas Wichtigeres zu tun als einen ganzen Abend im Kino zu verbringen. Einen Mordfall untersuchen beispielsweise.
    Am Abend vorher war ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und politischen Morden im Wedding und in Neukölln nachgegangen. Die Beschreibungen der Täter waren vorhersehbar ungenau. Andererseits sehen alle Mörder gleich aus, wenn sie braune Hemden tragen. Das ist auch meine Entschuldigung. Eines ist jedenfalls sicher – die Männer, die mich in den Hinterhalt lockten, mussten den Film gesehen haben.
    Als ich aus dem Mietshaus trat, in dem ich wohnte, kam ein kleiner Junge herbeigerannt. Ich war nicht sicher, ob ich ihn schon einmal gesehen hatte, doch selbst wenn, ich hätte ihn wahrscheinlich nicht erkannt. Alle kleinen Jungen im Scheunenviertel sahen gleich aus. Der kleine Junge vor mir hatte kurzgeschnittene blonde Haare, hellblaue Augen und war barfuß. Er

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