Das letzte Experiment
Erinnerungen tauschen mögen.
«Nicht dass Sie denken, es wäre keine harte Arbeit gewesen! Nicht jeder ist bereitwillig eingestiegen. Manche Kinder hatten irgendwie aufgeschnappt, was geschah, und wir mussten sie mit Gewalt in die Wagen bugsieren. Es konnte ziemlich ungemütlich werden. Wir mussten einige erschießen, die zu fliehen versuchten. Doch sobald sie erst mal im Wagen waren und die Türen geschlossen, ging es schnell. Ein paar Minuten hämmerten sie von innen gegen die Seitenwände des Lasters, dann war es vorbei. Je mehr von ihnen wir in den Wagen bekamen, desto schneller ging es. Ich hatte von August 1942 bis Juli 1943 das Kommando über den Trupp, aber da waren wir schon auf dem Rückzug.
Anschließend ging ich nach Klagenfurt, wo ich Chef der Gestapo wurde. Dann Koblenz, auch dort als Chef der Gestapo. Nach dem Krieg wurde ich von den Amis in Dachau interniert, doch ich konnte fliehen. Sie waren hoffnungslos inkompetent, die Amis. Konnten nicht mal ein Lagerfeuer bewachen. Von Dachau aus ging ich nach Rom und zum Vatikan, bevor ich hier gelandet bin. Im Augenblick arbeite ich für Fuldner, doch ich habe vor, mich im Immobiliengeschäft zu versuchen. In dieser Stadt kann man jede Menge Geld damit machen. Aber ich vermisse Österreich. Am meisten von allem vermisse ich das Skifahren. Ich war Deutscher Polizeimeister im Skilaufen, wissen Sie?»
«Tatsächlich?» Ein extrem sportlicher, skrupelloser Mörder also.
«Sie sehen mich überrascht an, Herr Hausner, und das zu Recht.» Christmann lachte. «Ich war krank, wissen Sie? Ich war in Brasilien, bevor ich nach Argentinien ging, und habe mir doch tatsächlich die Malaria eingefangen. Ich habe mich immer noch nicht wieder ganz davon erholt.» Er ging in die Küche und öffnete die Tür eines nagelneu aussehenden Kühlschranks. «Ein Bier?»
«Nein danke.» Ich war wählerisch, was meine Trinkgesellschaft anging. «Nicht im Dienst.»
Kurt Christmann lachte auf. «Ich war früher genau wie Sie», sagte er und öffnete eine Flasche. «Heute hingegen versuche ich, mehr wie die Argentinier zu sein. Ich mache sogar nachmittags eine Siesta. Leute wie Sie und ich, Hausner, wir haben Glück, dass wir überhaupt noch am Leben sind.» Er nickte. «Ein Reisepass wäre nicht schlecht. Allerdings glaube ich nicht, dass ich nach Deutschland zurückkehren werde. Ich denke, Deutschland ist erledigt, am Ende, erst recht, jetzt, wo die Popows das Land besetzt halten. Da wartet nur die Henkersschlinge auf mich.»
«Wir haben getan, was wir tun mussten», sagte ich. «Was man uns zu tun aufgetragen hat.» Ich kannte diese Rede inzwischen fast auswendig. Ich hatte sie oft gehört in den vergangenen fünf Jahren. «Wir haben nur unsere Befehle ausgeführt. Hätten wir uns geweigert zu gehorchen, wären wir selbst erschossen worden.»
«Genau!», stimmte Christmann mir zu. «Ganz genau. Wir haben nur Befehlen gehorcht.»
Nachdem ich ihn ein wenig hatte schwimmen lassen, war es an der Zeit, die Leine einzuholen.
«Wohlgemerkt», sagte ich. «Aber es gab einige. Ein paar wenige. Faule Äpfel, denen das Töten Freude gemacht hat. Die über ihre normale Pflicht hinausgegangen sind.»
Christmann drückte die Bierflasche an seine Wange und dachte für einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf. «Wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass das stimmt. Ich habe jedenfalls nichts dergleichen gesehen. Vielleicht war es in Ihrer Einheit anders, aber bei den Männern, mit denen ich in der Ukraine war? Sie waren ausnahmslos sehr mutig und gefestigt. Das ist es, was ich am meisten vermisse. Die Kameradschaft. Die Waffenbrüder. Das ist es, was ich wirklich am meisten vermisse.»
Ich nickte in scheinbarem Mitgefühl. «Ich vermisse Berlin am meisten von allem», sagte ich. «Und München. Aber Berlin vermisse ich am meisten.»
«Soll ich Ihnen was sagen? Ich war nie in Berlin.»
«Was denn – niemals?»
«Nein.» Er kicherte und trank von seinem Bier. «Ich denke, jetzt werde ich die Stadt wohl niemals sehen.»
Ich fuhr zufrieden nach Hause in dem Gefühl, ausgezeichnete Arbeit geleistet zu haben. Die Menschen, die man unterwegs kennenlernt, machen die Arbeit eines Detektivs so lohnenswert. Immer wieder begegnet man einem Menschen wie Kurt Christmann, und man glaubt, dass mittelalterliche Strafen, Selbstjustiz und andere durch und durch vernünftige südamerikanische Praktiken wie Strappado und die Garotte eigentlich ganz gut waren. Wie konnte es eigentlich jemals so weit
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