Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Anlasses, um den fatalen Mechanismus in Gang zu setzen. Beim ersten Mal hatte Theo die Verwandlung seiner Liebsten mit ungläubigem Entsetzen verfolgt. Nichts half, hatte er schnell gelernt. Keine Umarmung, keine trostreichen Worte, kein »Reiß dich zusammen«. Es war, als sei sie plötzlich eine Negativversion des Menschen, der sie sonst war: Eine Schattenfrau trat an die Stelle von Superwoman. Nadeshda verweigerte eine Psychotherapie. »So bin ich eben«, sagte sie. »Du kannst die eine nicht ohne die andere haben. Finde dich damit ab oder such dir jemand anderen.« Er hatte sich lieber abgefunden.
Es half nicht, dass die Nacht mit Mareike während einer von Nadeshdas schwarzen Phasen passiert war. Im Gegenteil, er fühlte sich doppelt schäbig. Am Morgen danach war Nadeshda, wie schon so oft zuvor, von einem Tag auf den anderen wie umgewandelt. Wochenlang hatte er sie ängstlich belauert, nach Anzeichen eines Verdachts geforscht – und sich so erst recht verdächtig gemacht. »Wenn du so weitermachst, ruinierst du deine Ehe«, hatte sein Freund Lars ihn gewarnt, der Einzige, dem Theo seinen Betrug gebeichtet hatte. Als Nadeshda schwanger geworden war, wuchs seine Angst, sie zu verlieren, ins Unerträgliche. Und dann hatte er sie verloren. Nur anders, als er befürchtet hatte. Bis zuletzt hatte er nicht gewusst, ob sie seinen Betrug nicht doch irgendwie erahnt hatte.
Er zupfte ein paar welke Blätter aus der Efeudecke und steckte sie in die Tasche seines dunkelblauen Fleecepullis. Mehr gab es nicht zu tun.
Der Rückweg führte ihn vorbei an dem muslimischen Gräberfeld, das die Friedhofsverwaltung erst vor ein paar Jahren hatte anlegen lassen. Beerdigt war dort allerdings noch niemand. Die hauptsächlich aus Türken bestehende muslimische Gemeinde zog es noch immer vor, ihre Toten in der alten Heimat beisetzen zu lassen. Theo war sich sicher, dass sich das in wenigen Jahren ändern würde, wenn der Tod häufiger nach den inzwischen erwachsenen Kindern der Einwanderergeneration greifen würde.
Bei diesem Gedanken fiel ihm Hadice ein. Hadice mit den kurzen blauschwarzen Haaren, den eleganten Gesten, dem plötzlich aufflackernden Jähzorn. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten einen heißen Sommer lang heimlich geknutscht und sich aus den Augen verloren, als ihr Vater genug Geld hatte, um für sich und seine Familie im feineren Harvestehude ein Haus zu kaufen. Auf einem Abiturjahrgangstreffen vor fünf Jahren hatten sie sich wiedergesehen. Theo war überrascht, aber nicht erstaunt gewesen, als sie erzählt hatte, sie sei inzwischen Kriminalkommissarin. »Türkische Frauenquote, was?«, hatte Thomas, der trotz seines begüterten Elternhauses keine Karriere gemacht hatte, bissig genuschelt und ein weiteres Bier gekippt. Hadice hatte ihn nur angefunkelt. Bei dieser Erinnerung wurde Theo schlagartig klar, an wen Lillys tödliche Blicke ihn mitunter erinnerten.
Er beschleunigte den Schritt und querte das Urnenfeld, das seit einigen Jahren von einer wachsenden Schar kreideweißer Engelchen bevölkert wurde. Sie spielten Posaune, schlummerten friedlich oder sahen nur versonnen in den bleigrauen Himmel hinauf. Die Grabstellen hier waren besonders günstig, weil die Preise so kalkuliert waren, dass die Friedhofsgärtner einfach mit dem Rasenmäher über das Feld fahren konnten. Inzwischen mussten sie jedoch erst die himmlischen Heerscharen abräumen, um sie anschließend wieder auf dem richtigen Grab zu positionieren. Viel Arbeit für wenig Geld. Aber keiner von der Friedhofsverwaltung war so abgebrüht, die herzigen Putten zu verbannen. Ein Engelchen mit Harfe blickte Theo auffordernd an.
»Schon gut, ich beeile mich ja«, sagte er. Er konnte die Sache mit Anna nicht länger aufschieben.
Zwei Tassen Kaffee und eine Dreiviertelstunde später betrat er die Wilhelmsburger Polizeiwache in der Georg-Wilhelm-Straße. Das Gebäude war noch fast neu und bestand aus blauen Fertigplatten. Hinter dem Empfangstresen aus hellem Holz saß Polizeiwachtmeister Bernhard Lübke, 46 Jahre alt. Angesichts des Besuchers schob er schnell die Wurststulle außer Sichtweite und würgte den letzten Bissen herunter. Theo grinste in sich hinein.
»Na, was kann ich für Sie tun?«, fragte der Beamte und wurde ein bisschen rot.
»Hadice Öztürk – die arbeitet doch noch hier?«
»Ganz genau.« Lübke schielte besorgt zu seinem zweiten Frühstück. Er befürchtete, dass möglicherweise Fettflecken die Anzeigeformulare für
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