Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
einer altersbedingten Psychose gelitten.«
Hanna lachte laut. »Das glaube ich ja nun keine Sekunde.«
»Die Frage ist nur, warum er sich so viel Mühe gegeben hat, die Identität zu wechseln. Die meisten Euthanasieärzte sind doch sehr glimpflich davongekommen. Ganz wie die Richter und andere hohe Nazischergen.« Dieser unrühmliche Teil der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte brachte Theo immer in Rage.
»Stimmt. Fatzer, der ja immerhin die medizinische Leitung von Eichenhof innehatte, hat man unbegreiflicherweise nur zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, die Leiterin der Kinderabteilung, Helena Schwarz, bekam gerade mal achtzehn Monate. Und zwar nicht etwa wegen Mordes.«
»Was sonst?«
»Beihilfe zum Totschlag, so hat man das genannt. Damit gab es plötzlich zwar mehr als 2000 Ermordete, aber keinen einzigen Täter.«
»Aber das konnte Bergman, wer immer er denn nun war und ist, natürlich nicht ahnen.«
»Oh, das war ja längst nicht alles. Wie Anna mir erzählt hat, hatte er weit mehr auf dem Kerbholz als die meisten seiner meuchelnden Kollegen. Das hätten auch die gutwilligen Richter nicht so ohne Weiteres durchgehen lassen können. Bergman hat seine Patienten nicht nur umgebracht. Er hat zuvor mit ihnen Experimente gemacht.«
»Menschenversuche also«, sagte Theo. Ihm stellten sich die Nackenhaare auf.
»Hirnforschung«, sagte Hanna Winter. »Genauer gesagt, Forschung am lebenden menschlichen Hirn.«
Theo stieß einen leisen Pfiff aus.
Sonntag, 9. Mai 1943
Anna lag auf ihrem Bett und starrte in die Dunkelheit. Schon als Kind war sie oft mitten in der Nacht aufgewacht, ohne wieder einschlafen zu können. Die ungewöhnliche Hitze war durch das dicke Mauerwerk der Anstalt gedrungen, und auch bei geöffnetem Fenster stand die Luft in der kleinen Kammer.
Leise, um Line nicht zu wecken, schlüpfte sie in ihre Sandalen. Sie stieg die Treppe hinunter und öffnete die Tür zur Kinderstation. 37 zarte Brustkörbe hoben und senkten sich in unterschiedlichem Rhythmus.
So zerbrechlich, dachte Anna. Nur ein Bett war leer. Am Morgen hatte sie dort den kleinen Adolf gefunden, der plötzlich hohes Fieber gehabt hatte. Schaum hatte sich in seinen Mundwinkeln gesammelt.
Ausgerechnet Adolf, dachte Anna. Bei der Visite am Vortag hatte sie es gewagt, Dr. Fatzer darauf hinzuweisen, wie schlecht der Junge Luft bekam. »Vielleicht könnten wir ihm ja ausnahmsweise etwas geben. Es ist so warm, und der arme Kerl leidet darunter besonders«, hatte sie gesagt.
Dr. Fatzer hatte die Einmischung der kleinen Hilfsschwester in seine Angelegenheiten gnädig übersehen. »Veranlassen Sie alles Nötige«, hatte er zu Schwester Helena gesagt.
Aber dann ging es Adolf auf einmal schlechter. In der Nacht war das Kerlchen gestorben.
»Komisch«, hatte Line gesagt. »Er hat ein bisschen nach Himbeerbonbons gerochen. Aber wo sollte der so was herhaben.« Süßigkeiten jeder Art waren Schätze, die man ungern teilte. Schon gar nicht mit einem gelähmten, geistig behinderten Kind.
Anna ging durch die Halle und schob den schweren Riegel der Eingangstür zurück. Draußen war es kaum kühler als im Haus, und der erhoffte Windhauch wollte sich nicht einstellen.
»Na so was«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit. »Was für eine nette Überraschung.«
Dienstag, 23. Dezember 2008
Theos Handy klingelte. Noch immer die »Sendung mit der Maus«. Hanna grinste in sich hinein. Ich muss das ändern, dachte er.
»Und«, fragte Lars, »wie ist es gestern gelaufen?« Lars hatte seinen Vater besucht. Der lebte seit fünfzehn Jahren als eine Art moderner Einsiedler auf einer Hallig. Ohne Fernsehen, Telefon, Internetanschluss – und ohne Mobilfunkempfang. Die einzige Verbindung zum Festland war ein antiquiertes Funkgerät.
»Hör mal, wir sehen uns ja morgen. Ich sitze hier nämlich gerade mit einer schönen Frau.« Er zwinkerte Hanna Winter zu.
»Hört, hört«, sagte Lars. »Dann viel Glück, Alter.«
»Warum«, fragte Hanna, nachdem er das Handy zurück auf den Tisch gelegt hatte, »warum setzen Sie sich eigentlich so ein? Sie sind nicht die Polizei.«
»Ich weiß es selbst nicht genau«, sagte Theo. Er zögerte. »Vielleicht einfach, weil mir die Toten anvertraut sind. Ich und meine Mitarbeiter, wir sind ihre letzten Zeugen. Die Letzten, die ein Unrecht aufdecken können, bevor sich der Sargdeckel endgültig schließt.« Hanna Winter nickte langsam.
»Vor einem Jahr haben wir eine Frau hineinbekommen. 56 Jahre alt. Sie war an einer
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