Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
früh aus den Kissen. Er schlüpfte in seine Laufschuhe und joggte bis zur Bunthäuser Spitze. Das Thermometer hatte minus acht Grad verkündet und winzige Eiskristalle wirbelten durch die Luft. Der Wind biss ihm in die Wangen und trieb ihm die Tränen in die Augen. Theo redete sich selbst gut zu. »Minus acht ist noch gar nichts. In Sibirien, da ist es kalt.« Er erinnerte sich an den jungen Seemann, von dem er Hanna am Vortag erzählt hatte. Der Sibirier hatte von seiner heimatlichen Temperaturmessmethode berichtet. »Wenn du ausspuckst, und es macht zwei Sekunden später klirr statt klatsch, dann bist du bei minus fünfzig«, hatte er fröhlich erzählt. Theo hatte verständnislos geguckt.
»Dann ist die Spucke gefroren, bevor sie auf dem Boden auftrifft«, hatte Sergej erklärt. Theo war beeindruckt. »Richtig interessant wird es ab minus sechzig Grad. Dann muss man unbedingt Spezialschutzbrillen tragen.« Sergei hatte eine Kunstpause gemacht. »Sonst gefrieren einem die Augäpfel.« Sergei wusste, wie man die Leute schockieren konnte.
»Cool«, hatte Lilly gesagt. Theo war nicht ganz sicher, ob der Russe ihnen einen sibirischen Bären aufbinden wollte.
Am Leuchtturm angekommen, blickte er sich um. Heute tuckerten keine Lastkähne auf der Elbe, und das gefrorene Schilf raschelte geheimnisvoll im Wind. Hier hatte man Anna vor dreizehn Tagen gefunden. Wenn er recht hatte, musste Bergman sie irgendwie hierher bugsiert haben. Ein ungewöhnlicher Ort, um eine Tote abzulegen, sollte man meinen. Und wie hatte Bergman wissen können, dass ausgerechnet das Annas Lieblingsplätzchen gewesen war?
Im blassen Morgenlicht kam ein Optimist, ein winziges Segelboot, vom gegenüberliegenden Elbufer herangesegelt. An Bord waren zwei etwa zwölfjährige Jungen mit Pudelmützen, die eine Piratenflagge gehisst hatten. Hart im Nehmen, dachte Theo und rieb sich die Finger, die trotz der Handschuhe drohten, zu Eis zu erstarren.
»Natürlich«, sagte er plötzlich. »Ein Boot.« Er dachte an die vornehme Villa direkt an der Elbe. Den kleinen Hafen mit Privatbooten nebenan. »Ich wette, er hat dich mit dem Boot hierher geschafft«, sagte er zu Anna. Nur für den Fall, dass die Geister der Verstorbenen tatsächlich noch eine Weile auf der Erde umherflatterten. »Wir kriegen den Kerl, versprochen.«
Als er glücklich, der Kälte bald entronnen zu sein, durch seine Toreinfahrt trabte, wartete bereits ein Weihnachtswichtel auf ihn. 120 Zentimeter groß, mit rot geringelter Mütze und fast noch röterer Nase hüpfte Lilly von einem dünnen Beinchen aufs andere. »Wo bleibst du denn?«, fragte der Wichtel vorwurfsvoll.
»Lilly, was machst du denn schon hier? Der Weihnachtsmann kommt erst heute Abend.«
»Weiß ich doch«, sagte Lilly ungerührt. »Onkel Lars hat bestimmt noch genug um die Ohren.«
Theo schaute betreten.
»Komm schon, du hast nicht wirklich gedacht, ich glaub noch an das Christkind«, sagte Lilly ungewohnt mitfühlend. »Aber Lars sollten wir besser nichts davon sagen, der hat doch solchen Spaß daran.«
»Okay«, sagte Theo niedergeschlagen. Er schloss die Tür auf, und Lilly schlüpfte unter seinem Arm hindurch schnell in die vergleichsweise warme Luft der Diele.
Nachdem sie sich aus ihrem monströs wattierten Wintermantel gepellt hatte, rieb sie sich tatkräftig die Hände. »Und, wo ist das ganze Zeug?«
»Welches Zeug?«
»Na, der Schmuck für den Weihnachtsbaum.«
»Wieso?«
»Theo, du hast es versprochen!« Lilly stützte die Hände in die mageren Hüften.
»Was denn?«
»Dass ich den Weihnachtsbaum schmücken darf. ›Nächstes Jahr‹, hast du gesagt!«
Theo erinnerte sich vage an ein Versprechen, das er unbedachterweise im letzten Jahr gegeben hatte. Nur so war es ihm gelungen, die quengelnde Lilly ruhigzustellen.
»Na gut, dann komm schon«, sagte er unwirsch. Den Weihnachtsbaum zu schmücken, hatte er insgeheim zu einer wahren Kunstform erhoben, die er Jahr um Jahr verfeinerte. Und nun würde dieser Wicht seinen Prachtbaum wahrscheinlich in ein Monstrum verwandeln.
»Kein Pink«, sagte er streng. »Und kein Glitzer.«
Lilly verdrehte die Augen. »Du hast doch gar keine pinkfarbenen Kugeln«, entgegnete sie sachlich.
»Und du hast auch nichts mitgebracht? Kein rosafarbener Sprühschnee?« Theo blieb argwöhnisch.
»Nix«, sagte Lilly treuherzig und breitete die leeren Hände aus.
Sie gingen zum Kamin im Wohnbereich. Dort stand in einer Ecke eine gut gewachsene Edeltanne, die Theo nach
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