Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Fatzer begütigend. »Jetzt kommen Sie mal mit, junge Frau, ich gebe Ihnen etwas zur Beruhigung.« Er führte die Frau am Arm zur Tür. »Ihre kleine Margot war doch sehr krank. Da ist es so doch das Beste für sie.«
Die Frau schüttelte seine Hand ab und straffte sich. »Meine Margot war ein sehr glückliches Mädchen. Sie war vielleicht nicht wie andere Kinder, aber sie war mein Ein und Alles«, sagte sie würdevoll. »Auf der ganzen Welt gibt es nicht noch einmal ein so liebes Kind.« Dann blickte sie zu dem kleinen Karl hinunter, der unbemerkt aus seinem Bett gekrabbelt war und nun schüchtern an ihrem Kleid zupfte.
»Der Kuchen«, wisperte er sehnsüchtig, »ich hab doch so Hunger.«
Dienstag, 23. Dezember 2008
»Anna hat 1943 als Kinderkrankenschwester in Stift Eichenhof im Norden von Hamburg gearbeitet. Dort waren vor allem Behinderte und psychisch Kranke untergebracht. Irgendwann hat sie mitbekommen, dass man die Kleinen dort keineswegs nur gepflegt hat.«
Theo hob die Brauen. »Euthanasie?«
»Ganz genau. Zu Deutsch: der schöne Tod.« Hanna blickte ihn empört an. »Ich hab schon ein wenig recherchiert. Im Herbst 1939 hat Hitler ein geheimes Papier unterzeichnet, in dem er vermerkt, ›dass unheilbar Kranken der Gnadentod gewährt werden kann‹. Auf seinem persönlichen Briefpapier übrigens, das kann niemand schönreden. Damit begann die Tarnaktion T4, benannt nach der Berliner Anschrift Tiergartenstraße 4. Da saß die Zentrale, die die Morde koordiniert hat.« Hanna holte tief Luft.
»Zwischen 1939 und 1945 haben die Nazis und ihre willigen medizinischen Helfer neueren Untersuchungen zufolge geschätzte 200 000 psychisch kranke und behinderte Menschen getötet. Im Rahmen von T4 geschah das anfangs systematisch: Die schwersten Fälle wurden mit grauen Bussen aus den Heilanstalten abgeholt und dann ins Gas geschickt. Heilanstalten, dass ich nicht lache! Wer sterben musste, hat eine illustre Runde von Medizinern und Anwälten entschieden. Die haben sich die Patienten dazu nicht einmal angeschaut. Die haben ihr Todesurteil nach einem kurzen Blick in die Akten gefällt. Zack, einfach so.« Grimmig schüttete sie noch ein weiteres Päckchen Zucker in ihre Tasse.
»Aber dann kamen Gerüchte auf. Die Menschen, die abtransportiert wurden, kehrten nie mehr zurück. Aber ihre Kleider tauchten wieder auf.« Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. »Igitt, ist das süß.« Theo schob ihr schweigend seinen Becher zu, den er noch nicht angerührt hatte.
»Zu ihrem Erstaunen waren nicht alle Verwandten froh und dankbar, ihre durchgedrehten oder behinderten Angehörigen loszuwerden. 1941 hat Bischof Galen in Münster eine Rede gehalten, in der er die Tötung von Kranken angeprangert hat. Daraufhin hat man die Angelegenheit etwas diskreter betrieben. Die Anstaltsärzte haben einfach in kleinem Rahmen auf eigene Faust weitergemacht, treue Staatsbürger, die sie waren. Geschichtswissenschaftler haben das später als ›wilde Euthanasie‹ bezeichnet. Man hat die ›lebensunwerten Individuen‹ systematisch hungern lassen. Da hatten Krankheiten ein leichtes Spiel. Wer sich nicht nützlich machen konnte und nicht den Anstand hatte, von allein zu sterben, der wurde vergiftet. Den Kindern haben sie das Gift in Himbeersaft aufgelöst, damit es nicht so bitter schmeckt. Allein in Eichenhof hat man mehr als 2000 Menschen getötet. Darunter waren fast 200 Kinder.«
»Und Anna hat in Professor Bergman einen der Täter erkannt.«
Hanna nickte. »Welchen, wollte sie mir partout nicht sagen. Sie meinte, sie bräuchte erst noch einen handfesten Beweis.« Frustriert trommelte sie mit den Fingern auf dem Tisch herum.
»Sie hat nur erzählt, dass sie ihm zufällig an der Alster begegnet und ihm gefolgt ist. Sie war sich hundertprozentig sicher. Und ich glaube, sie hat sich nicht getäuscht. Ich saß ziemlich weit vorne, als sie ihn beschuldigt hat. Ich habe sein Gesicht gesehen. Er hat sie auch wiedererkannt.«
»Das heißt, Bergman muss nach dem Krieg eine andere Identität angenommen haben.«
»Da wäre er ja nicht der Einzige.«
»Wenn das stimmt, dann hat er sich die Identität eines KZ-Opfers ausgesucht.«
Hanna blickte überrascht auf. »Was für eine zynische Tarnung.«
»Ich war gestern bei ihm: Er hat sogar eine Tätowierung auf dem Arm. Er will während des Krieges im KZ gewesen sein. Er behauptet, Anna habe ihn verwechselt. Und dann hat er versucht, mir einzureden, sie hätte an
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