Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
der Kühle in den alten Räumen war Anna bald durchgeschwitzt. »Was ist mit den Medikamenten?«, fragte sie und wischte sich den Schweiß mit dem Unterarm von der Stirn. Ilse zuckte mit den Achseln. »Es gibt keine«, sagte sie. »Die werden schließlich für Menschen gebraucht, denen noch zu helfen ist.« Line und Anna sahen sich an. »Seht lieber zu, dass ihr fertig werdet. Um elf ist Chefvisite, da muss alles picobello sein.«
»Na, dann kriege ich heute wohl wieder eine schöne Schleife ins Haar«, meldete sich ein junges Mädchen in einem Rollstuhl. Ihre Gliedmaßen waren grausam verkrümmt und verdreht, aber in ihrem schmalen Gesicht blitzten hellwache Augen.
»Hallo, ich bin Maja. Man nennt mich auch den menschlichen Korkenzieher.«
Anna lachte.
Anna, Line und Ilse schafften es gerade noch, ein Marmeladenbrot zu essen und hastig ein Glas Milch zu trinken. Um Punkt elf Uhr kamen sie hereingerauscht. Allen voran schritt ein schmerbäuchiger Mann, der beim Gehen stark hinkte.
»Herr Doktor Fatzer, der Herr Chefarzt«, informierte Maja Anna, die ihr gerade die Haare gebürstet hatte. Ihm folgten zwei junge Männer. Der eine war schlank und hochgewachsen. Er trug sein dunkles Haar militärisch kurz geschnitten und einen Führerschnurrbart. Er schaute betont ernst, aber in seinen Augen meinte Anna den Schalk blitzen zu sehen. Seltsam, Führerbärtchen und Humor – das passte ihrer Erfahrung nach nicht zusammen. Auch der andere war groß und dunkelhaarig, sah aber noch um einiges besser aus. Ein Mann vom Typ Rudolf Prack. Ihre Mutter wäre dahingeschmolzen. Anna hingegen hatte für schöne Männer wenig übrig. Sie fand die Herren der Schöpfung ohnehin meist reichlich überheblich, und gutes Aussehen steigerte ihr Selbstbewusstsein oft in den Größenwahn.
Allerdings war sie überrascht, hier überhaupt auf zwei so junge Männer zu treffen. Fast alle waren an der Front.
»Asthma und Herzfehler«, informierte Maja sie, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ganz hübsch, die beiden, oder? Da ist doch für jeden was dabei.« Der junge Arzt mit dem Hitlerbärtchen wandte sich den zwei jungen Frauen zu, als hätte er mitbekommen, was sie sagten. Er zwinkerte ihnen zu. Anna spürte zu ihrem Ärger, dass ihr das Blut in die Wangen stieg.
»Sven von Vries«, flüsterte Maja und verdrehte schmachtend die Augen. »Ich bin ihm vollkommen verfallen.«
»Und der andere?«
»Oh, das ist Konstantin zu Weißenfels.«
»Scheint ja der halbe Adelskalender anwesend zu sein.«
»Tja«, wisperte Maja, »alle durch Inzucht degeneriert und wehruntauglich.« Unter den strafenden Blicken der Oberschwester kicherte sie unterdrückt.
»Wen haben wir denn da?«, fragte Dr. Fatzer und ließ den Blick wohlgefällig über Line gleiten. Sie hatte die langen blonden Zöpfe zu einem adretten Kranz um den Kopf gesteckt und sah aus wie das perfekte Jungmädel. Bevor sie antworten konnte, ertönte auf dem Gang plötzlich lautes Geschrei.
»Wo ist mein Kind?«, rief eine Frauenstimme. »Lassen Sie mich zu meinem Kind!« Indigniert wandte sich Dr. Fatzer der Tür zu, die auch schon aufflog. Dort stand eine verhärmt wirkende Frau. Anna schätzte sie auf Ende dreißig. Ihr Hut war verrutscht, die Kleider ärmlich und die Schuhe schief gelaufen. Panisch ließ die Frau ihren Blick über die Betten wandern.
»Margot«, rief sie, »Mutti ist da!« In der Hand hielt sie eine leicht zerdrückte Pappschachtel, die mit einem Paketband verschnürt war. »Ich hab doch Kuchen mitgebracht«, sagte sie verzweifelt.
»Nun beruhigen Sie sich doch, gute Frau.« Fatzer griff jovial nach ihrem Arm.
»Margot, wo bist du denn, Engelchen?«, klagte die Frau, ohne ihn zu beachten.
»Margot Petersen, Mongolismus«, sagte Schwester Helena leise. »Verstorben am 19. März.«
»Typhus?«, fragte der Arzt. Die Bulldogge nickte.
»Tot? Mein Kind ist tot? Das glaube ich nicht. Was haben Sie mit ihr gemacht, wo ist sie?«
»Sie liegt schon unter der Erde. Bei Typhus müssen wir schnell handeln. Wegen der Infektionsgefahr, das verstehen Sie sicher. Ist die Familie denn nicht informiert worden?«, fragte Fatzer dann an Schwester Helena gewandt.
Die schnaubte empört. »Aber natürlich. Wir haben ihr noch am selben Tag einen Brief geschrieben. Per Express.«
»Ich war bei meiner Mutter«, flüsterte die Frau, die jetzt am ganzen Leib zu zittern begann. »Mutti war krank, und ich musste mich doch um sie kümmern.«
»Na, das erklärt doch alles«, sagte
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