Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
altern. Je älter wir werden, desto größer ist die mögliche Spannweite zwischen biologischem Alter und Lebensjahren.«
»Wo ziehen wir das Limit?«, fragte Hanna.
»Mitte neunzig«, beschloss Theo. »Der Mann, den ich gesehen habe, war alt. Aber er wirkte nicht wie ein Greis. So viel können auch die besten Gene nicht bewirken.«
»Gut«, sagte Hanna ruhig. »Dann gehen wir jetzt davon aus.«
Sie tippte ein paar kurze Befehle in ihr Excelprogramm. Daraufhin leuchteten auf ihrer Liste nur noch drei Namen auf.
»Sven von Vries. Konstantin zu Weißenfels. Und Otto Richter«, sagte Lars, der ihr über die Schulter spähte.
Der Mops hob den breiten Schädel, sprang auf und blaffte. Fünf Sekunden später klingelte es an der Tür. Im Sprossenfenster zeichnete sich eine schmale Silhouette ab. »Frohe Weihnachten«, sagte Fatih. Fröstelnd zog er die Schultern nach oben.
Montag, 17. Mai 1943
Schon in der Woche nach ihrer Ankunft hatten Anna und Line mit gezielten Schmuggelaktionen begonnen. Line hatte ein Händchen dafür, sich heimliche Verbündete zu machen. Die dicke Gertrud aus der Küche unterschlug Brot für die Kinder, das eigentlich für die Ärzteschaft gedacht war. Auch der pfiffige 15-jährige Hein Kruse, der sich um den stiftseigenen Schweinestall kümmerte, zwackte Essensreste ab. »Wenn die Säue fett sind, werden sie geschlachtet. Also tue ich ihnen einen Gefallen, wenn ich die ’n büschen knapper halte«, sagte er augenzwinkernd, wenn Anna sich die glitschigen Kartoffeln in die Schürzentaschen steckte. »Dann leben sie länger.« Und Anton, der die Mädchen am ersten Abend kutschiert hatte, schaffte erstaunliche Leckereien aus dem Gasthof herbei.
Das größte Problem war allerdings, den Kindern das Essen heimlich zuzustecken. Während der Schichten waren Schwester Ilse und Oberschwester Helena, das Bulldoggengesicht, allgegenwärtig. Blieben nur die Nächte, in denen die Bulldogge Nachtwache hatte. Spätestens um Mitternacht schlummerte sie selig auf ihrem Stuhl, sodass sie unbemerkt zu den Kindern hineinschlüpfen konnten. Glücklicherweise schlangen die hungrigen Kleinen das Essen schnell hinunter. Nach wenigen Minuten konnte Anna eine letzte Kontrollrunde mit der Taschenlampe machen in der Hoffnung, keine verräterischen Krümel zu übersehen.
Sie hatten den Kindern eingeschärft, ja niemandem von den nächtlichen Mahlzeiten zu erzählen. Trotzdem blieb es eine tägliche Zitterpartie. Einige der Kinder waren noch zu klein, um zu begreifen, wie wichtig das war. Andere machte ihre geistige Behinderung arglos, und sie vergaßen schnell, was man ihnen sagte.
»Irgendwann erwischen sie uns«, unkte Anna.
»Quatsch. Und überhaupt, haben wir eine Wahl? Schließlich können wir nicht einfach zuschauen, wie die armen Würmchen hier auch noch verhungern.« Line hatte natürlich recht. Immer wieder fanden sie am Morgen eines der Bettchen leer. Die Kinder, die nicht selbst essen konnten, konnten sie nachts nicht füttern. Und wenn sie versuchten, ihnen tagsüber ein bisschen mehr zu geben als vorgesehen, verpetzte die giftige Ilse die Mädchen.
Während Anna, aus Furcht davor, erwischt zu werden, kaum einschlafen konnte, schlummerte Line wie ein Baby. Auf ihren nächtlichen Spaziergängen traf Anna häufig auf Sven von Vries. Sie unterhielten sich über die Bücher, die sie gelesen, und Filme, die sie gesehen hatten. Im Schutz der Dunkelheit fiel es leichter, auch gewagte Gedanken auszusprechen, die sie beschäftigten. Einer stillschweigenden Vereinbarung folgend, ließen sie sich am Tag von ihrer wachsenden Vertrautheit nichts anmerken.
Line machte unterdessen dem hübschen Konstantin schöne Augen. An einem schönen Frühsommerabend stahlen sie sich sogar zu viert davon ins nahe Dorf zum »Danz op de Deel«. Line hatte Anna überredet, Lippenstift aufzulegen, und hatte ihre dunklen Locken mit Geduld und vielen Klemmen in eine schicke Frisur verwandelt. Sie selbst trug die langen blonden Haare zu einer Rolle eingeschlagen, mit der sie plötzlich sehr erwachsen wirkte. In Konstantins flottem Cabrio erregten sie Aufsehen bei der Dorfjugend. Line stürzte sich sofort ins Getümmel, Anna blieb am Rande stehen. Sie sah zu, wie Line mit einem Burschen über den Tanzboden wirbelte. Der Junge schlug sich wacker, obwohl ihm ein Arm fehlte. Überhaupt stellte Anna beim zweiten Blick fest, dass sich die meisten Tänzerinnen mit einer Tanzpartnerin begnügen mussten. Männer, vor allem junge, waren
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