Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Gedächtnis. Ich glaube nicht, dass es unmöglich ist, jemanden nach so langer Zeit wiederzuerkennen, wenn die Begegnung mit Angst, Hass oder Leidenschaft verknüpft war.« Sie stützte ihr Kinn in beide Hände und sah Lars gerade in die Augen. »Was mich persönlich von der Geschichte überzeugt hat, ist: Ich war dabei, als Bergman Anna gesehen hat. Ich bin sicher, auch er hat sie wiedererkannt.«
»Gut«, sagte Lars, »dann gehen wir jetzt bis zum Gegenbeweis von dieser Hypothese aus. Anna hat Bergman wiedererkannt. Und umgekehrt. Und Bergman war damals in – wo war das noch?«
»Eichenhof«, warf Theo ein.
»Genau. Also in Eichenhof als Arzt, der Experimente mit den Patienten durchgeführt hat. Unsere erste Frage wäre: Wer hat damals in Eichenhof gearbeitet, der für die Rolle des Schurken infrage käme? Und wer war da, der heute noch als Zeuge fungieren könnte?«
Hanna nickte. »Damit habe ich schon angefangen.« Sie rief eine weitere Datei in ihrem Computer auf. »In Eichenhof waren während des Krieges insgesamt neun Ärzte tätig. Natürlich allesamt männlichen Geschlechts.« Sie schnaubte verächtlich. »Zwei von ihnen wurden eingezogen, bevor Anna im Mai 1943 auf der Bildfläche erschien: Doktor Heinrich Lehmann und Doktor Fritz Körber.«
»Können wir die beiden wirklich mit Sicherheit streichen? Ich meine, vielleicht hat einer von ihnen im Fronturlaub der Stätte seines grausigen Wirkens einen Besuch abgestattet – und Anna kannte ihn daher.«
Hanna runzelte die Stirn. »Unwahrscheinlich«, sagte sie. »Heinrich Lehmann ist im Februar 1942 in Stalingrad gefallen.«
»Und der andere?«
»Fritz Körber ist schon 1939 aus Eichenhof ausgeschieden – freiwillig.«
»Vielleicht ein Mann mit Gewissen, der die Euthanasie nicht mitmachen wollte?«, spekulierte Theo.
»Vielleicht.« Hanna hob die Schultern. »Kurz darauf ist er jedenfalls eingezogen worden. Schon im Februar 1940 ist er heimgekehrt – als Schwerverwundeter. Offenbar direkt in den Schoß seiner Familie, zu Frau und Kindern. Das heißt, ein Identitätswechsel ist nahezu ausgeschlossen. Und außerdem: Körber hat im Krieg ein Bein verloren.«
»Das heißt, Bergman ist definitiv nicht Körber.«
»Ganz genau.«
»Wen haben wir noch?«
»Wolfgang Fatzer. Doktor Fatzer war bis nach Kriegsende Leiter der Anstalt Eichenhof.«
»Der böse Wolf.«
Hanna nickte. »Ich habe Theo schon erzählt, dass er ziemlich glimpflich aus der Geschichte herausgekommen ist. Man hat ihn lediglich wegen Beihilfe zum Totschlag zu drei Jahren Haft verurteilt. Das Schwein hat nicht einmal seine Approbation verloren.« Sie scrollte die Seite hinunter. »Ich glaube allerdings nicht, dass Fatzer sich für Hirnforschungsexperimente interessiert hat. Er war wissenschaftlich nicht gerade ambitioniert. Sein Abitur hat er nur mit Note ›Drei‹ gemacht. Und im Studium scheint er auch keine große Leuchte gewesen zu sein.«
»Vielleicht war er einfach ein Sadist.«
»Möglich. Allerdings wissen wir, was aus ihm geworden ist: Er ist 1965 gestorben. Friedlich in seinem Bett, wie es scheint.«
»Die Welt ist ungerecht.«
»Kann man wohl sagen. Er hat sich als Internist niedergelassen und allseits geachtet vor sich hingewerkelt. Hier habe ich einen Nachruf: ›Die Stadt trauert um ihren verdienten Mitbürger …‹«
»Wo hast du das bloß alles ausgegraben?«
Hanna hob die Brauen. »Journalistische Herkulesarbeit«, sagte sie. »Die meisten aktuellen Daten kann man heute ja im Internet recherchieren. Aber hierfür musste ich tatsächlich in staubigen Archiven wühlen. Na, immerhin hatte ich zwei Wochen Zeit.«
»Soweit ich das sehe, wäre Fatzer alias Bergman vermutlich doch auch vom Alter her durchs Raster gefallen. Einem jungen Spund überträgt man doch kaum die Leitung einer Klinik.«
Hanna nickte. »1943 war er bereits 52 Jahre alt. Heute wäre er 117.«
»Wenn wir uns aufs Alter konzentrieren, wer kommt dann überhaupt infrage?«
»Also, auf mich hat er wie ein rüstiger Achtzigjähriger gewirkt.« Hanna schaute zu Theo. »Was meinst du? Könnte er tatsächlich schon über hundert Jahre alt sein?«
»Ich denke nicht.« Theo rief sich das Bild von Professor Bergman vor Augen. Der klare Blick. Die ruhigen Hände. Die straffe Haltung. »Als mein Großvater starb, sah er jedenfalls deutlich klappriger aus – und der war 81.«
»Das ist nicht unbedingt ein Maßstab.«
»Ich weiß. Es gibt diese genetisch begünstigten Menschen, die offenbar verzögert
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