Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Ihnen abverlangt, was?« Anna ballte die Fäuste.
Donnerstag, 27. Mai 1943
Als Anna und Line nachts die Treppe hinunterschlichen, saß die Bulldogge nicht schnarchend an ihrem gewohnten Platz.
»Vielleicht ist sie bloß auf dem Klo?«, wisperte Anna.
Line schüttelte den Kopf, sie deutete auf die Tür zum Schlafsaal der Kinder. Tatsächlich hörten sie von dort leises Murmeln. Auf Zehenspitzen schlichen sie näher und lugten durch den Spalt. Die Bulldogge saß am Bett des kahlköpfigen Hannele. Sie stützte ihr räudiges Köpfchen und gab dem Mädchen etwas zu trinken. »Trink schön, das schmeckt gut«, sagte sie zuckersüß.
Anna und Line warfen sich einen Blick zu. Sonst war die Bulldogge nie so nett zu den Kindern. Lautlos traten sie den Rückzug an.
Am nächsten Morgen war das Hannele tot. »Ihr schwaches Herz hat aufgehört zu schlagen«, sagte Dr. Fatzer salbungsvoll. »Das arme Kind, nun ist es erlöst.« Dann ließ er die kleine, fast kahlköpfige Leiche abtransportieren. Anna und Line wechselten einen Blick.
Sie kamen nicht mehr dazu, miteinander zu reden. Noch während der Vormittagsschicht wurde Line zum Direktor zitiert. Anna schuftete für zwei. Beunruhigt grübelte sie darüber nach, was Lines langes Ausbleiben zu bedeuten hatte. Ihr Blick fiel auf Karl, der aufs Fensterbrett geklettert war und winkte. Sein Wasserkopf schwankte bedrohlich. »Karl«, rief Anna. »Komm sofort da runter!« Schnell lief sie zu ihm hinüber. Unten sah sie Anton mit seinem Pferdegespann. Und Line mit ihrem Koffer. »Nein!«, flüsterte Anna. Als die Pferde anzogen, wandte Line sich um und starrte zu den Fenstern hinauf. Mit einem Ruck setzte Anna Karl auf den Boden und öffnete die Fenster. Das Letzte, was Line von Eichenhof sah, war Annas verzweifelt winkende Hand zwischen den Gitterstäben, die hinter der Biegung der Allee verschwand.
Am Abend, als die Pflegerinnen zum Essen zusammenkamen, verlor niemand ein Wort über Lines leeren Platz. Dr. Fatzer kam hereingerauscht. »Ich muss Ihnen mitteilen, dass Fräulein Caroline Müller Stift Eichenhof unehrenhaft verlassen musste.«
Unehrenhaft?, dachte Anna. Seit wann sind wir beim Militär?
»Wegen Unterschlagung von Lebensmitteln«, donnerte Fatzer. »In Kriegszeiten können wir so etwas selbstverständlich nicht hinnehmen.«
Klingt, als hätte sie das Brot verscherbelt, dachte Anna grimmig.
»Wer ähnliche Frevel begeht, wird augenblicklich des Stifts verwiesen. Das gilt auch für alle, die solche Aktivitäten unterstützen oder decken.«
Als Anna um elf zur Hintertreppe kam, wartete Sven schon auf den Stufen. Sie blieb stehen.
»Keinen Moment glaube ich, dass das Hannele einfach so gestorben ist«, platzte sie heraus.
Er schwieg und reichte ihr eine Zigarette.
»Sie hatte tatsächlich ein schwaches Herz, das kannst du mir glauben.«
Anna schnaubte. »Komisch, dass ihr Herz ausgerechnet in der Nacht stehen geblieben ist, in der die Bulldogge ihr was zu trinken gegeben hat. Sonst brüllt sie die Kinder nur an, wenn die jammern, dass sie Durst haben.«
»Woher weißt du das?«, fragte Sven.
»Wir waren da«, antwortete sie herausfordernd. »Ich und Line.«
»Tut mir leid, dass man sie weggeschickt hat.«
Anna setzte sich auf die Stufen und umschlang die Knie mit den Armen. »Das stinkt doch alles zum Himmel.«
Sven schwieg. »Eliminierung unnützer Esser«, sagte er dann und drückte den Stummel seiner Zigarette aus.
»Du meinst, irgendjemand hat das angeordnet?« Anna spürte, wie ihr eiskalt wurde. »Hier bleibe ich keinen Tag länger«, sagte sie.
»Lauf nur weg, kleine Anna«, sagte er gleichmütig. »Aber dann kannst du nichts mehr tun für die Kinder.«
Er weiß genau, wie er mich herumkriegen kann, dachte Anna. Für einen Moment empfand sie einen Hauch von Abneigung gegen den jungen Arzt.
Sie seufzte. »Ich mache mir einfach Sorgen um Maja.« Sie starrte in den Nachthimmel. »Ich habe da irgendwie ein komisches Gefühl. Seit sie diesen epileptischen Anfall hatte, macht die Bulldogge so seltsame Bemerkungen. ›Armes Hascherl‹, nennt sie sie dauernd. Da wird einem wirklich schlecht.« Sie wandte den Kopf und sah ihn an. »Sven, wenn du was weißt, musst du es mir sagen.«
»Ich weiß wirklich nicht, was Fatzer und seine Leute planen«, sagte er. »Ich glaube, die entscheiden spontan, wen es erwischt. Wer es nicht wert ist, länger zu leben.«
Anna schauderte »Aber Maja! Die ist so klug und so witzig. So voller Lebenslust, trotz ihrer
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