Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
gelockt?«
»Ich musste ihn niederschlagen«, sagte Lars und blickte gewalttätig.
»Theo.« Lars’ Vater ließ seine Pranken auf die Schultern des Gastgebers fallen. Nach dem Tod von Nadeshda hatte Theo sich wochenlang bei Hansen auf der Hallig verkrochen. Er kannte Lars’ Vater, seit er und Lars sich als Teenager angefreundet hatten. Das war jetzt über zwanzig Jahre her. Hansen hatte seine Frau drei Jahre vor Nadeshdas Tod verloren und dann den Posten als Vogelwart angenommen. Von dem Tag an hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken. Er war der Einzige, bei dem Theo das Gefühl gehabt hatte, er könne seinen Schmerz ansatzweise nachvollziehen.
Die Letzte, die hereinwieselte, war das kugelrunde Fräulein Huber. »Dieses Jahr haben wir einen Apfelstrudel zur Nachspeise«, verkündete sie und knallte schnaufend ein mit einem Küchentuch bedecktes Backblech auf den Arbeitstisch; unter dem Tuch zeichneten sich zwei enorme Strudelleiber ab. Theo grinste. Fräulein Huber hatte schon zu Lebzeiten seines Vaters die Produktion des Weihnachtsdesserts an sich gerissen. Neben dem traditionellen Apfelstrudel hatte sie noch »Bayrisch Creme« und »Apfelkücherl« – in Fett ausgebackene Apfelscheiben im Teigmantel – in ihrem nicht eben umfangreichen Repertoire. Dafür schmeckten alle drei Erzeugnisse sensationell.
»Lecker«, sagte Theo und versuchte unter das Tuch zu spähen. »Nimm deine Pfoten weg, die ungewaschenen!« Fräulein Huber gab ihm einen Klaps auf die Finger.
Theos Blick suchte Hanna, die entspannt an der Küchenvitrine lehnte und den Trubel mit einem amüsierten Lächeln verfolgte. »Ich möchte euch Hanna vorstellen«, sagte er. »Hanna Winter. Journalistin. Und wie wir auf der Fährte von Anna Florins Mörder.« Schweigen senkte sich über die kleine Runde.
»Will vielleicht mal jemand den Baum angucken?«, fragte Lilly.
»Aber unbedingt.« Hanna griff nach ihrem Glas mit eiskaltem Wodka: »Trinken wir auf Anna Florin.«
»Und auf eine erfolgreiche Jagd«, ergänzte Theo.
»Na dann: Halali«, sagte Lars.
Vier Stunden später war der letzte Happen Kartoffelsalat vertilgt. Sogar May hatte sich halbwegs gnädig gezeigt und zu Theo gesagt: »Na, Kartoffelsalat kriegst du ja wenigstens hin. Letztes Jahr hat er uns nämlich halb rohen Gänsebraten serviert«, sagte sie dann zu Hanna gewandt. »Und im Jahr davor gab es eine Art Raviolimatsch.«
Theo zählte innerlich bis zehn. Was trieb May nur dazu, dauernd zu sticheln? »Das waren Piroggen«, sagte er betont gleichmütig. Die russischen Riesenravioli waren im Kochwasser aus unerklärlichen Gründen zu einem Teigbrei zerfallen. Irgendwo ganz hinten in seinem Kopf hörte er Nadeshda lachen.
Dabei sind Piroggen ja noch nicht einmal ein typisch russisches Weihnachtsessen, dachte Theo. Piroggen hatte Nadeshda immer zu Ostern gemacht. Das war in Russland sowieso das wichtigere Fest. Nicht die Geburt, sondern die Wiedergeburt Christi war dort entscheidend. Letztlich geht es doch darum im Leben, dachte er. Ums Wiederaufstehen.
»Da hab ich ja Glück gehabt«, sagte Hanna lakonisch. »Diese Würstchen sind jedenfalls extrem lecker.« Sie schnappte sich das letzte und biss hinein.
Auf der Couch schlummerten irgendwann einträchtig Fräulein Huber, Paul-Mops und Lilly. Nur Letztere schnarchte nicht. Zur Abwechslung hatte sich dieses Jahr Vadder Hansen nach dem Essen davongestohlen und war in die Weihnachtsmannkluft geschlüpft. Sein Bart löste sich beim Sprechen, und die unverkennbaren Augenbrauen quollen unter der Mütze hervor, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Lilly hatte keine Miene verzogen. Für sie hatte der Weihnachtsmann einen Puppenoperationstisch aus dem Sack gezaubert, mit dem sie Obduktion spielen konnte. Theo hatte lange danach im Internet suchen müssen und ihn erst bei einer obskuren US-Firma auftreiben können. Von Lars bekam Lilly ein antiquiertes Lehrbuch der Pathologie, in das sie sogleich die Nase gesteckt hatte. Von ihr kamen für den Rest des Abends nur noch Zwischenfragen wie »Was heißt asservieren?« oder »Was ist eine Durchflusszytometrie?«, die Theo zerstreut beantwortete. Er hatte einen allerliebst mit Streublumen bemalten Rehschädel samt Geweih von Lars erhalten, den er sogleich über dem Kamin anbrachte.
Gegen Mitternacht löste sich die kleine Gesellschaft auf. »Rufst du mir ein Taxi?« Hanna gähnte herzhaft.
»Das kostet doch ein Vermögen.«
Hanna lachte. »Weihnachten ist schließlich nur einmal im
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