Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Mangelware. Und die, die es gab, waren überwiegend kriegsversehrt: Ein junger Bursche hüpfte wacker Polka auf Krücken, ein anderer war durch Brandnarben entstellt, einem dritten fehlte ein Auge. Der Anblick machte Anna traurig. So viel Leid, und wofür? Nur weil sich ein paar alte Männer in den Kopf gesetzt hatten, Krieg zu führen.
»Na, kleine Anna, willst du nicht auch tanzen?« Sven lächelte amüsiert aus seinen fast einen Meter neunzig auf sie herunter.
Anna schüttelte lachend den Kopf.
»Da riskiere ich bloß Kopf und Kragen«, sagte sie. »Schau doch, wie giftig der kleine Rotschopf da auf Line starrt. Vermutlich hat sie ihr den Verehrer ausgespannt.«
»Andererseits, wenn du mit mir tanzt, kann niemand was sagen, immerhin habt ihr die Männerquote mit uns gehörig aufgestockt.«
»Nichts da, Anna tanzt jetzt mit mir«, rief Line, die atemlos herangestürmt kam. Sie packte die Freundin an der Hand und zog sie mit sich.
Am nächsten Tag gähnten Anna und Line um die Wette. »Schlecht geschlafen?«, fragte Ilse heuchlerisch. Sie hatte natürlich genau gesehen, wie die Mädchen mit den beiden jungen Ärzten davongefahren waren, und war voller Neid.
Anna beachtete sie nicht. Sie freute sich daran, dass die Kinder dank der heimlichen Rationen wieder ein bisschen munterer geworden waren und Farbe auf die Wangen bekamen. Das entschädigte sie für alle ausgestandenen Ängste. Nur Maja schwand zusehends dahin. »Gebt’s lieber dem hungrigen Karl«, sagte sie immer. »Ich brauch nicht so viel.«
»Unsinn«, zischte Anna. »Noch ein Kilo weniger, und du bist bald ganz futsch.«
Maja lachte leise. »Weißt du, was Doktor von Vries gesagt hat? Ich hab die Figur einer Ballerina, hat er gesagt.« Erschöpft schloss sie die Augen und lächelte glücklich. »Eine Ballerina! Früher war ich immer ein rechtes Pummelchen.« Sie öffnete die Augen und sah Anna verschmitzt an. »Wenn der Krieg erst vorbei ist, winkt mir sicher eine glänzende Karriere am Berliner Staatstheater.«
»Genau. Der sterbende Schwan im Rollstuhl. Das wird eine Sensation.«
»Wer weiß.« Maja lächelte unergründlich. »Vielleicht entwickelt ja jemand irgendwann eine Therapie, die uns Spastis heilt.« Anna seufzte.
»Statt mit dem Korkenziehermädchen so viel Zeit zu verplempern, könntest du mir lieber helfen, die Bettpfannen zu schrubben.« Ilse betrachtete die Freundschaft zwischen Anna und der Patientin mit Missfallen.
»In meiner Pause mach ich, was ich will«, sagte Anna spitz und schob Maja hinaus in den Park.
Dort spazierte Line mit Konstantin zu Weißenfels in der Sonne umher.
»Der hat ja wohl einen Narren an unserer Line gefressen«, sagte Maja.
Als Line die beiden entdeckte, verabschiedete sie sich von ihrem Galan und kam hinübergerannt.
»Treib’s nicht zu doll«, warnte Anna.
»Ist alles für einen guten Zweck.« Sie öffnete die Hand, in der ein Röhrchen Tabletten lag. »Das ist ein brandneues Mittel«, sagte sie stolz. »Frisch aus Berlin. Das Beste, was es derzeit gibt gegen Spastiken. Ich hab’s unserem schmucken Herrn Doktor abgeluchst.«
»Sag ich doch«, rief Maja triumphierend. »Her damit.« Sie sperrte den Mund weit auf.
Zwei Stunden später schüttelte sie ein schrecklicher epileptischer Anfall.
»Was war das für ein Zeug, das Sie ihr gegeben haben?«, brüllte Anna, als Weißenfels mit wehendem Kittel angelaufen kam.
»Ein ganz neues Neuroleptikum«, sagte er hilflos. »Ich habe es von einem ehemaligen Studienkollegen. Der macht gerade eine Versuchsreihe an der Charité.«
»Sie sind wohl wahnsinnig«, brüllte Anna. Sie hielt noch immer Majas Kopf, die nach dem Anfall langsam wieder zu sich kam.
»Verdammt noch mal, das ist Maja und kein Versuchskaninchen.«
»Fräulein Florin, Sie vergessen sich.« Oberschwester Helena war, angelockt von dem Tumult, unbemerkt hinzugekommen. Ihr Kopf war hochrot, und ihr Busen bebte.
»Schon gut«, sagte Weißenfels.
»Anna«, flüsterte Maja. »Lass es gut sein.« Sie zitterte unbändig nach den schweren Muskelkrämpfen. Sie hatte sich während der Attacke eingenässt und heftig auf die Zunge gebissen. Blutiger Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. Hilflos wischte Anna ihn weg.
»Ich würde jede Pille der Welt schlucken. Nur für die Hoffnung, dass ich irgendwann für fünf Minuten ein normaler Mensch sein kann.«
»Bravo«, sagte Weißenfels. »Das ist die Art von Courage, die wir brauchen für den medizinischen Fortschritt.«
»Solange man die nicht
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