Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
klimperten. Hildegard war sehr vermögend. Woher ihr Reichtum stammte, dazu hatte sie sich nie geäußert. Sie war sehr exzentrisch.
»Exzentrisch genug, einen hässlichen Wasserkopf bei sich aufzunehmen«, erklärte Karl augenzwinkernd. Hanna und Theo lauschten seiner Erzählung wie einem Märchen. Schnell hatte Hildegard spitzgekriegt, dass ihr kleiner Wasserkopf eine Art Wunderkind war. Sie ermöglichte ihm die beste Ausbildung, und so war er Professor für Astrophysik geworden, »eine Koryphäe seines Fachgebiets«, hatte Hanna erstaunt gesagt, als sie ihn im Internet aufgestöbert hatte. Ein Genie aus der Behindertenanstalt.
»In meinem Kopf ist halt mehr Platz zum Denken als gewöhnlich«, sagte Prof. Dr. Karl Lewander und klopfte fröhlich auf seinen enormen, fast völlig haarlosen Schädel, der auf einem zierlichen Körper ruhte. Er trug einen erlesenen, safranfarbenen Hausmantel aus Brokat, wie er vor achtzig Jahren Mode gewesen sein mochte. Die winzigen Füße steckten in spitz zulaufenden Samtpantoffeln. Das schmächtige Männlein erinnerte Theo an den »kleinen Muck« aus dem Märchen von Wilhelm Hauff. Auch der Raum, in dem sie saßen, war wundersam. An den Wänden hingen zahllose Spiegel in allen Größen und Formen. Dazwischen blickten Porträts auf die Besucher herunter, die vom Ende des 19. Jahrhunderts stammen mochten. Die Frauen mit seelenvollem Blick und hochgeschnürtem Busen. Die Männer mit imposanten Bärten. Die dunkelblau gestrichene Decke war kunstvoll mit einem Sternenhimmel bemalt, der sich ins Unendliche zu wölben schien. Über dem Kamin hing das mächtige Geweih eines Zwölfenders, von dessen Spitzen bunte, mit echten Federn beklebte Vögel aus Pappmaschee hingen. Sie drehten sich träge in der aufsteigenden Wärme des Feuers.
In einer Vitrine und auf der Anrichte befand sich eine eindrucksvolle Sammlung von Nippes: Blechkarussells und Aufziehspielzeug, eine gläserne Schneekugel, die eine viktorianische Schlittschuhszene beherbergte, ein alter Hampelmann aus Holz. Dann begannen plötzlich die drei oder vier Uhren zu schlagen, die im Zimmer standen und hingen. Aus einer Kuckucksuhr an der Wand sprang statt des Vogels ein tanzender Hund hervor.
Auf einem Beistelltisch entdeckte Theo ein Kaninchen aus weißem Porzellan. Es stand aufrecht auf den Hinterläufen. Zwischen den langen Ohren saß ein Zylinder. »Jetzt weiß ich, wo wir gelandet sind«, sagte er zu Hanna und deutete auf die Figur. »Wir sind zum Tee beim verrückten Hutmacher.« Tatsächlich war der Tisch mit goldverziertem Porzellan gedeckt. In der Mitte türmten sich Teekuchen und hauchdünne Sandwiches.
»Alice im Wunderland!«, rief der Professor vergnügt und hieb mit seiner winzigen Faust auf den Tisch, dass die Kuchen hüpften. »Eines meiner Lieblingsbücher. Wissen Sie, ich habe eine Weile in Oxford gelebt.« Dann wurde er ernst. »Aber deswegen sind Sie nicht hier.«
Hanna zog auf das Stichwort hin die Fotos aus ihrer großen Wildledertasche mit Fransen. »Erkennen Sie diesen Mann?«, fragte sie.
Karl nahm die Ausdrucke vorsichtig in die Hände und setzte sich seine griffbereite Lesebrille auf die Nase. »Und der soll auf Eichenhof gearbeitet haben?«
»Das glauben wir jedenfalls.«
Er studierte das Gesicht genau, dann hob er den Blick. »Tut mir wirklich leid«, sagte er schließlich. »Aber als Hildegard mich aus Eichenhof gerettet hat, war ich noch keine sechs Jahre alt. An Gesichter kann ich mich einfach nicht mehr erinnern.« Kummervoll schob er die Brille auf die Stirn. Sein gletscherblauer Blick wanderte von Theo zu Hanna und zurück. »Worum geht es hier eigentlich wirklich?«
Keine fünf Minuten dauerte es, in Kurzform zu berichten, was sie wussten, glaubten, errieten. Anna Florin war von einem Mann getötet worden, weil sie 1943 Zeugin seiner Experimente an Menschen geworden war. Jenem Mann, der seit dem Krieg unter einer falschen Identität Karriere gemacht hatte.
Karl nickte bedächtig. »Kann sein, kann sehr gut sein.« Er rutschte von seinem pflaumenblauen Samtsessel. »Vielleicht kann ich Ihnen doch weiterhelfen.« Kurz darauf kehrte er mit einem dicken Ordner zu ihnen zurück. »Ich habe selbst vor ein paar Jahren Recherchen über Eichenhof angestellt.« Er schlug den Ordner auf, ließ die Brille von der Stirn auf die Nase plumpsen und blätterte in den gelbstichigen Unterlagen.
»Vor allem wollte ich herausfinden, was aus dem Mann geworden ist, der mich 1943 operiert hat.«
»Operiert?«
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