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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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Sie war eine warmherzige, ganz wunderbare Person. Nur Erik gegenüber konnte sie wohl nicht über ihren Schatten springen. Und darum muss damals wirklich etwas Schlimmes passiert sein. Wenn sie uns nur erzählt hätte, was das war.«
    Dienstag, 1. Juni 1943
    Anna sah auf ihre Hände hinunter. Sie umklammerten das Metallgestänge am Fußende des Krankenhausbetts so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie registrierte die abgestoßenen Stellen, wo das dunkle Eisen unter der cremefarbenen Farbschicht hervorschaute.
    Das Bett war leer. Es war nicht nur leer, es war verwaist. Jemand hatte Kopfkissen und Decke entfernt und das Laken abgezogen. Nur noch die nackte, blau-weiß gestreifte, etwas fleckige Matratze lag auf dem Gitterrost. Im Sonnenlicht über dem Bett tanzten die Staubpartikel einen Reigen.
    »Wo ist Maja?«, fragte Anna.
    »Maja? Die ist weg. Verlegt worden.« Ilse zuckte betont gleichgültig die Schultern. Doch ihre Schafsaugen blitzten boshaft.
    Anna atmete laut aus. Verlegt hieß zumindest nicht tot. Zumindest noch nicht. »Wohin verlegt?«
    »Keine Ahnung. Sie haben heute früh neun Kinder mitgenommen.«
    Erst jetzt bemerkte Anna, dass weitere Betten leer standen. Der kleine Karl mit dem Wasserkopf fehlte. Und die halbseitig gelähmte achtjährige Sieglinde, ein Neuzugang aus der letzten Woche.
    »Wer?«, fragte Anna.
    »Dein lieber Doktor von Vries«, sagte Ilse spitz.
    Anna machte auf dem Absatz kehrt.
    »Wo willst du hin!«, rief Ilse ihr wütend hinterher. »Du hast jetzt Dienst!«
    Anna eilte die langen Gänge des ehemaligen Klosters hinunter. Erst kurz vor dem Ärztezimmer hielt sie an, um sich wieder zu fassen. Unmöglich konnte sie da hineinplatzen wie ein hysterischer Backfisch. Sie atmete ein paarmal tief durch und klopfte dann bescheiden.
    »Herein«, klang es dumpf. Sie öffnete die schwere Tür und schlüpfte hindurch. Im Ärztezimmer saß Direktor Fatzer an einem großen Refektoriumstisch, der fast den gesamten Raum einnahm. Konstantin zu Weißenfels lehnte lässig an der Wand, den Kittel aufgeknöpft, die Hände in den Hosentaschen. Zwischen seinen Lippen steckte eine Zigarette. Ansonsten war das Zimmer leer.
    »Das Fräulein Florin, nicht wahr«, sagte Fatzer leutselig. »Was können wir denn für Sie tun, Mädchen?«
    »Ich suche Doktor von Vries«, sagte Anna.
    »Der Herr Doktor. Scheint ja mächtig begehrt zu sein bei den jungen Damen.« Fatzer zwinkerte ihr zu.
    Am liebsten hätte Anna ihn gegen das Schienbein getreten.
    »Nun«, sagte er, »da müssen Sie sich noch etwas gedulden, junge Dame. Von Vries ist gerade im OP.«
    Im OP?, dachte Anna verwirrt. Seit wann gibt es hier einen OP?
    Am Abend wartete sie schon um halb elf auf der Hintertreppe des ehemaligen Klosters – früher als üblich. Von Sven war noch nichts zu sehen. Ungeduldig schubste sie Steinchen, die sich auf die Stufen verirrt hatten, auf den Kiesweg. Der Vollmond tauchte die Landschaft in ein unwirkliches Licht.
    Zum ersten Mal fühlte sie sich unbehaglich in der Dunkelheit. Wahrscheinlich weil sie sich um Maja sorgte, sagte sie sich. Diese Ungewissheit machte sie wahnsinnig. Sie kickte ein weiteres Steinchen von der Treppe. Plötzlich verstärkte sich das Unbehagen. Irgendetwas hatte sie gehört. Ein Geräusch, das nicht in die Sommernacht passte. Ein leises Klicken von Metall, das auf Metall traf. Aus den Augenwinkeln versuchte sie, den Rhododendronbusch mit Blicken zu durchdringen. Irgendwas war da, spürte sie. Ein heller Schimmer zwischen den Blättern. Eine – Anwesenheit.
    Sie bückte sich und griff nach einem großen Stein, der sich aus der maroden Brüstung der Treppe gelöst hatte. Reste von Putz verliehen ihm scharfe Kanten. Mit aller Macht schleuderte sie den Brocken in das Blattwerk. Ein dumpfer Laut. Dann ertönte wütendes Geheul. Eine Gestalt brach durch die Äste. Weiße Blüten wirbelten durch die Luft. Blut strömte aus einer Platzwunde an der Stirn. Immer noch brüllend wischte sich die Gestalt die herabrinnende Flüssigkeit aus den Augen. Dann ging sie auf Anna los. Fritz, dachte sie. Der Scheißkerl hat mir nachspioniert.
    »Du Schlampe!«, brüllte der Hilfspfleger.
    Anna zuckte zusammen. Seine Stimme klang schrill und unnatürlich hoch. Ich hab ihn noch nie reden gehört, kam ihr in den Sinn.
    »Was ist denn hier los?«, ertönte eine weitere Stimme aus der Dunkelheit. Sie klang amüsiert.
    Sven, dachte Anna erleichtert.
    »Mensch, Anna, hast du den armen Kerl so

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