Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
zusammengekauert sitzt, die Arme um die mageren Knie geschlungen – denn sie und Mathilde haben die Hälfte ihrer Essensmarken in mich investiert.« Er lächelte schief. »Und trotzdem hatte ich immerzu Hunger … Und dann die blonden Zöpfe, die ihr links und rechts über die Schultern fielen. Oder, wenn ich Glück hatte, trug sie ihr Haar auch offen. Eine Lichtgestalt. Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Theo und Hanna schüttelten unisono den Kopf.
Emil kramte bedächtig in der tiefen Tasche seiner Strickjacke und förderte Pfeife und Tabak heraus. Er stopfte den Kopf mit präzisen Bewegungen. Schmauchend zog er dann am Stiel der Pfeife, während er sie mit einem seltsamen hakenförmigen Feuerzeug entzündete. Als der Tabak zwei-, dreimal aufgeglüht war, lehnte er sich zufrieden zurück. Ein würziger Duft nach Äpfeln verbreitete sich im Raum.
»Ein paar Wochen später ist dann Anna aufgetaucht. Mathilde hat sie auch bei sich aufgenommen. Sie muss so eine Art Nervenzusammenbruch gehabt haben. Von Line weiß ich nur, dass sie herausgefunden hatte, dass man irgendwelche furchtbaren Experimente in Eichenhof gemacht hat. Das hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Und das, obwohl Anna schon damals eine starke Persönlichkeit war.«
»Hatte sie denn keine eigene Familie, zu der sie gehen konnte?«
Emil schüttelte den Kopf. »Zu ihrer Mutter wollte sie nicht. Und der war es wohl ganz recht, dass Anna nicht bei ihr wohnte. Wegen der Schande, wissen Sie?« Er zog bedächtig an seiner Pfeife. »Als Anna hierher in den Papenbrack kam, war sie nämlich schwanger.«
Theo hob überrascht den Kopf. »Und der Vater des Kindes?«
»Sie hat nie erzählt, wer es war. Nicht einmal Line. Wir haben immer vermutet, dass sie vergewaltigt worden ist.«
»Weil sie den Vater nicht nennen wollte?«
Emil schüttelte den Kopf. »Weil sie Erik nicht bei sich haben wollte.« Er paffte zwei, drei Züge an seiner Pfeife. Blauer Dunst umwaberte ihn. »Erik. Nicht einmal den Namen hat sie für ihn ausgesucht.« Er schwieg einen Moment. »Als Line das Kerlchen zum ersten Mal gesehen hat, hat sie gesagt: ›Der sieht ja aus wie Erik der Rote.‹«
»Der Wikinger? Der, der schon vor Kolumbus die Neue Welt entdeckt hat?«
Emil nickte. »Er hatte einen knallroten Schopf, als er auf die Welt kam. ›Dann nennen wir ihn doch einfach Erik‹, hat Anna wohl nur gesagt. Es hat sie überhaupt nicht interessiert.« Er seufzte.
»Aufgezogen haben dann eigentlich wir drei ihn. Mathilde, Line und ich. Anna hat erst ihre Schwangerschaft weitgehend ignoriert. Und nach der Geburt ist sie dann, so schnell es ging, wieder arbeiten gegangen. Erst als Hilfskrankenschwester und dann als richtige Pflegerin. Sie hat gewissermaßen unser Brot verdient. Patchworkfamilie nennt man das wohl heute. Verstehen Sie mich nicht falsch, es war ein gutes Arrangement. Viel brauchten wir ja nicht. Mathilde hatte das Haus, und Line und sie haben, so viel es geht, im Garten angebaut. Und dann hatten wir noch die Hühner. Als Erik klein war, gab’s sogar eine Ziege – wegen der Milch. Hedwig hat die geheißen. Weiß der Himmel, wo Mathilde die aufgetrieben hatte. Ein unglaublich stures Vieh.« Er lachte. »1951 hat Anna dann angefangen, Medizin zu studieren. Nebenbei hat sie weitergearbeitet und Nachtdienste geschoben. Zu Hause, bei ihrem Sohn, war sie so gut wie nie.«
»Und wie hat der Junge das verkraftet?«, wollte Hanna wissen.
»Oberflächlich ganz gut. Ich meine, nach dem Krieg ging es ihm besser als vielen. Väter waren ohnehin Mangelware. Und Erik hat immerhin drei Menschen gehabt, die ihn von Herzen gern hatten. Mathilde war für ihn immer ›die Omi‹. Nur jemandem, zu dem er Mama sagen durfte, gab es nicht. Anna hat das abgelehnt. Und Line wollte sich nicht in eine Rolle drängen, die ihr nicht zustand.« Die Pfeife war erloschen. Sorgfältig polkte Emil mit dem spitzen Klappstachel des Pfeifenstopfers den restlichen Tabak aus dem Kopf und klopfte ihn auf einem Keramikteller aus. Dann legte er die Pfeife behutsam auf den Tisch.
»Line hat immer gehofft, dass Annas Gefühle für Erik sich irgendwann ändern würden. Das haben sie dann auch, denke ich. Aber sie ist ihm gegenüber immer reserviert geblieben. Ich fürchte, er hat nie ganz aufgehört, um ihre Zuneigung zu kämpfen. Das war schon traurig anzusehen.« Er schob die Asche zu einem ordentlichen Häufchen zusammen.
»Glauben Sie jetzt aber nicht, Anna sei ein schlechter Mensch gewesen. Im Gegenteil:
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