Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
mir gedacht, dass der Sie vielleicht interessiert.«
Dankbar nahm Theo die Sachen entgegen.
»Vielleicht fällt Line noch das eine oder andere dazu ein, wenn sie sie sieht.« Emil blickte sich um. »Ich seh mal nach, wo sie steckt – sie wollte sich für Sie hübsch machen.«
Als Erstes nahm sich Theo den Zeitungsausschnitt vor. Manchmal war es wirklich praktisch, wenn die Leute nichts wegwarfen. Das Papier war vergilbt und brüchig. Der Artikel stammte aus dem ›Hamburger Abendblatt‹ und war im August 1973 erschienen. »Die Tote ohne Kopf«, hatte das Blatt getitelt. Darin erfuhr er, dass man zahllose Skelette auf dem Gelände des ehemaligen Stifts Eichenhof gefunden hatte. Es war zwar kein Geheimnis gewesen, dass die Anstalt ihren eigenen Friedhof besessen hatte. Doch an einigen Skeletten hatte man Spuren von den Versuchen gefunden, die Sven von Vries und Konstantin zu Weißenfels damals gemacht hatten. Und einem von ihnen fehlte der Kopf.
Anschließend blätterte Theo die Bilder durch. Das erste Foto zeigte zwei blutjunge Frauen – die eine mit blonden Zöpfen, die andere mit kurz geschnittenen, dunklen Locken. Sie saßen Arm in Arm auf einer niedrigen Steinmauer und lachten in die Kamera. Line und Anna, dachte Theo. Wie jung sie aussahen und wie fröhlich. Trotz Krieg. Trotz Naziterror. Trotz Euthanasie in ihrer unmittelbaren Umgebung. Vielleicht hatten sie zu dem Zeitpunkt noch nichts davon geahnt, was sich in Stift Eichenhof abspielte. Das zweite Bild zeigte Line allein. Sie posierte übermütig mit einer Zigarette, wie ein verruchter UFA-Filmstar. Zu diesem Zweck hatte sie die kindlichen Zöpfe mit einer Hand hinter dem Kopf zusammengefasst. Bild Nummer drei war größer als die anderen. Es war eine Gruppenaufnahme, für die offenbar zumindest der Großteil der Belegschaft angetreten war. Sie standen in ordentlichen Reihen auf einer großen Freitreppe. Die Frauen trugen Schwesterntrachten, die Männer weiße Kittel. Theo war elektrisiert. War Bergman unter ihnen? Line kam herein, gefolgt von ihrem Mann. Offensichtlich hatte sie sich fein gemacht. Sie trug ein pflaumenfarbenes weiches Strickkleid. Dazu eine Perlenkette.
»Schön sehen Sie aus, Line«, sagte Theo. Sie errötete ein bisschen, setzte sich aber dann unbefangen neben ihn.
»Ich schaue mir gerade dieses Bild an.« Theo deutete auf die Gruppenaufnahme. »Können Sie mir sagen, wer die Leute sind?«
»Mal sehen.« Line griff nach einer Lupe, die auf dem Tisch lag. »Das sind Schwester Mathilde, Schwester Gertrud, und die da, mit den Hängebacken, das ist Schwester Helena. Wir haben sie immer nur die Bulldogge genannt.« Sie kicherte. Line war offenbar in Hochform. Die meisten Namen kamen wie aus der Pistole geschossen. Theo hielt den Atem an, als sie zu den Ärzten kamen, die sich in der Mitte des Bildes aufgestellt hatten. »Doktor Fatzer«, sagte Line leise. »Das war wirklich ein böser Mensch. Wie der daneben heißt, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, mit Vornamen hieß er Otto.«
»Otto Richter?«, fragte Theo.
»Genau.« Line strahlte. »Woher wissen Sie das? Waren Sie auch dabei?« Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.
Theo schüttelte sachte den Kopf. »Nein, ich habe nur von ihm gehört. Und wer sind die zwei daneben?«
»Das ist Konstantin, Doktor Konstantin zu Weißenfels, und der daneben müsste Sven von Vries sein.«
»Darf ich mal?« Theo nahm ihr Bild und Lupe ab, um die zwei winzigen Gesichter zu studieren. Der eine Mann stand ziemlich steif und schaute betont ernsthaft in die Kamera. Der andere schien der jungen Frau neben ihm etwas ins Ohr zu flüstern, seine Hand verdeckte halb sein Gesicht. Bis auf die Haarfarbe konnte er bei beiden keine Ähnlichkeit mit dem Bergman-Bild aus den Sechzigern entdecken. Aber vielleicht war das Foto einfach zu klein. Seufzend blätterte er weiter. Das vierte Bild zeigte eine Gruppe junger Leute. Sie saßen unter Bäumen auf einer Wiese und veranstalteten ein Picknick. Theo zählte vier Frauen und zwei Männer, von denen einer ein bauchiges Musikinstrument spielte. Anna und Line konnte er mühelos erkennen, die zwei anderen jungen Frauen trugen Schwesterntrachten wie sie.
»Haben wir da Ärger gekriegt«, erzählte Line. »An dem Tag war es so heiß, da haben wir das Mittagessen nach draußen verlegt. Das fand die Bulldogge gar nicht witzig. Bei den Ärzten konnte sie nicht viel sagen, aber uns Mädels hat sie zur Schnecke gemacht. Wir mussten uns alle komplett umziehen. Im Gras
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