Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
beiden Mädchen sorgsam Köpfchen an Köpfchen gebettet. Als sollten sie einander im Tod gegenseitig Trost spenden. Obwohl vor allem das eine Kind sehr klein war, schätzte Theo, dass sie gegen Ende des fünften Schwangerschaftsmonats gestorben waren. Auf den winzigen Köpfen spross der erste Flaum, und auch die Augenbrauen waren bereits ausgebildet gewesen. Das eine Kind war deutlich schwächer als das andere. Theo vermutete, dass eine fehlerhafte Blutversorgung im Mutterleib schuld daran war. Bei einem von 300 eineiigen Zwillingen wurde das eine Kind über- und das andere unterversorgt – eine lebensbedrohliche Situation für beide Föten. Inzwischen gab es die Möglichkeit, im Mutterleib zu operieren und die problematische Blutzufuhr zu blockieren. In siebzig Prozent der Fälle überlebten beide Kinder, in zwölf Prozent starben beide. Diese zwei hatten es nicht geschafft.
Der Sarg war mit schneeweißem Satin ausgeschlagen, der zu kühl für die Kinder wirkte. Aber May hatte die Mädchen in weiche Babydeckchen gehüllt. Zu Füßen der Kinder lagen eine Stoffente und ein Plüschkaninchen. Reisegefährten durch die Nacht. Sorgsam verschloss Theo den Sarg wieder. Als er sich umwandte, stand Nadeshda vor ihm. Sie lächelte ihn mitfühlend an. Er trat auf sie zu, doch sie drehte sich um und ging durch die Tür hinaus.
Sie kommt immer dann, wenn ich mich besonders niedergeschlagen fühle, fiel ihm zum ersten Mal auf. In letzter Zeit hatte er sie seltener gesehen. Hieß das, dass es ihm besser ging?
Er wandte sich um und machte sich an die Arbeit. Jochen Ruppert wartete in der Kühlkammer auf ihn. Herzinfarkt mit siebenundvierzig. Theo schüttelte den Kopf. »Jochen war ein Workaholic«, hatte seine Frau, die jetzt mit den beiden kleinen Kindern allein dastand, verbittert gesagt. »Aber er musste ja unbedingt seine ganze Energie in diesen verdammten Laden stecken.« Dieser »Laden« war eine kleine, aber florierende Kfz-Werkstatt am Niedergeorgswerder Deich gewesen. »Er wollte unbedingt, dass wir uns was leisten können. Mit seinem Bruder mithalten, das hat er gewollt.« Theo hatte verständnisvoll genickt. Arnd Ruppert, der jüngere Bruder des Toten, war Lokalpolitiker und schon längst auf die andere Seite der Elbe ins besser situierte Harburg gezogen. »Totgeschuftet hat er sich. Und was haben wir jetzt davon?« Grimmig hatte sie durch Theo hindurchgeblickt und ihrem Mann einen bitteren Blick ins Jenseits gesandt.
Kapitel 15
Aufmarsch der Fensterputzer
Montag, 29. Dezember 2008
Am nächsten Morgen rief Emil an. »Emil Lüders – der Mann von Annas Freundin Line«, stellte er sich mit der Bescheidenheit eines Menschen vor, der nicht erwartet, dass man sich an ihn erinnert. Emil erzählte, dass er die letzten Tage damit verbracht hatte, nach alten Fotos aus der Zeit zu suchen, in der Line und Anna in Eichenhof gewesen waren. Theo erinnerte sich mit einem Lächeln an das vollgestopfte Häuschen der Lüders und nahm an, dass der alte Mann eine wahre Herkulesarbeit vollbracht hatte. »Zum Schluss habe ich tatsächlich ein paar Bilder gefunden, es sind zwar nicht sehr viele …«
»Ich komme vorbei«, sagte Theo. »Gleich heute, wenn es Ihnen recht ist.«
Da May sich um die Beerdigung der beiden Zwillingsmädchen kümmerte, hatte Theo am Vormittag Zeit. Wie beim letzten Mal ging er zu Fuß zum Papenbrack. In der Nacht hatte es ein wenig geschneit, und die Kinder in den Vorgärten kratzten die kümmerlichen Flocken zusammen, um daraus Schneebälle zu formen.
Emil Lüders empfing ihn so herzlich wie beim letzten Mal. Diesmal bat er ihn in das winzige Wohnzimmer, in dem noch der Tannenbaum stand. Emil lachte, als er Theos Blick sah. »Dieses Jahr haben wir uns unser Bäumchen selber gebastelt«, sagte er nicht ohne Stolz. Von der Weihnachtsfeier des Kirchenchors, in dem er und Line noch immer sangen, hatten sie viele Tannenzweige mitnehmen dürfen. »Da hab ich gedacht, das reicht sogar für einen Baum.« Er hatte sie kurzerhand auf eine Holzleiste genagelt. Das Ergebnis war ungewöhnlich, aber durchaus gelungen, fand Theo. »Wir gehören noch zu der Generation, die nichts wegwerfen kann – aber das lässt sich wohl kaum verbergen.« Er warf Theo ein spitzbübisches Lächeln zu. »Wovon ich mich trennen könnte, will Line unbedingt behalten, und umgekehrt.« Dann reichte er Theo den kleinen Stapel mit Fotografien. »Mehr habe ich leider nicht gefunden«, sagte er. »Außer diesem Zeitungsausschnitt. Hab
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