Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Visitenkarte als Unterpfand.
»Falls Ihnen doch noch was einfällt«, hatte Hanna mit mühsam unterdrückter Wut zum Abschied gesagt. Wenn diese Journalistin Hanna Winter nach ihm suchte, bestand wohl die Möglichkeit, dass er entgegen allen Vermutungen noch am Leben war, dachte sich Ilse Steiner. Zumindest hatte er dem Bild zufolge offensichtlich den Krieg überlebt und jeden an der Nase herumgeführt. Alle Achtung! Das nötigte ihr Respekt ab. Sie musste unbedingt herauskriegen, was aus ihm geworden war, dem Herrn Doktor. Ilse lächelte in sich hinein. Dann griff sie nach ihren Zähnen, die sie in einem Glas auf ihrem Nachttisch stehen hatte, und klingelte nach der Pflegerin. »Ich brauch ein Telefon, Mädchen, aber dalli!«
»Und, ist Ihnen doch noch etwas eingefallen?«, fragte Hanna misstrauisch.
»Ich weiß nicht genau, in meinem Alter kommen die Erinnerungen und gehen. Vielleicht können Sie meinem Gedächtnis ja ein bisschen auf die Sprünge helfen. Wie heißt denn der Mann?«
»Das wollte ich eigentlich von Ihnen wissen.«
»Nein, ich meine, wie nennt er sich heute?« Ilse schnaubte ungeduldig. »Da Sie hinter ihm her sind, vermute ich mal, dass er eine neue Identität angenommen hat.« Für einen Moment ließ sie die Maske der senilen Alten fallen.
»Der Mann auf dem Foto nennt sich Jonathan Bergman.«
»Ein Ami?« Ilse kicherte.
»Ja.«
»Nun lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Was macht er? Wo lebt er? Alles, was Sie mir erzählen, könnte meiner Erinnerung ja den entscheidenden Anstoß geben.«
Hanna fühlte sich unbehaglich dabei, so ausgehorcht zu werden. Zumal in ihr die Überzeugung wuchs, dass Ilse Steiners Erinnerung tadellos funktionierte. Hanna überlegte. Immerhin bestand die Chance, dass die Anruferin doch noch mit ihrem Wissen herausrücken würde.
»Er ist ein renommierter Hirnforscher. Und zurzeit lebt er in Hamburg.«
»Sieh mal einer an«, sagte Ilse Steiner zufrieden.
Hanna schauderte.
»Ich muss jetzt Schluss machen, es gibt Abendessen.«
»Denken Sie noch einmal nach und rufen Sie mich an. Vielleicht ist ja sogar eine kleine Belohnung drin«, sagte Hanna, einer plötzlichen Eingebung folgend.
»Oh, ich werde darüber nachdenken, keine Bange.«
Freitag, 6. August 1943
Als Anna nach ihrem Unfall im zerbombten Haus zum ersten Mal wieder arbeiten durfte, ließ Schwester Helena sie zu sich rufen. Sie thronte in ihrem Zimmer hinter einem massiven Schreibtisch mit Löwenfüßen. Während Anna im Zimmer stand, beschäftigte sie sich demonstrativ mit den Papieren vor sich. Anna verdrehte die Augen wegen des durchsichtigen Einschüchterungsmanövers. Schließlich geruhte die Bulldogge, den Blick zu heben.
»Setzen Sie sich«, sagte sie barsch.
Anna nahm auf einem unbequemen Stuhl Platz. Sie bemerkte, dass er deutlich niedriger war als der imposante Stuhl, auf dem die Oberschwester thronte. Hierarchisches Gefälle, praktisch umgesetzt, dachte sie. Die Oberschwester nahm die Brille von der Nase und sah Anna streng an. Ihre Oberlippe kräuselte sich leicht, als wäre ihr ein übler Geruch in die Nase gestiegen.
»Sie sind also wiederhergestellt.«
»Ja«, sagte Anna abwartend.
»Dann würde ich Sie gerne fragen, was Sie überhaupt in dem Haus zu suchen hatten.«
»Nun, ich wollte helfen.« Anna war verdutzt. »Ich sah, wie die Bombe einschlug, und da bin ich sofort hinübergelaufen.«
»Ohne Hilfe zu holen.«
»Daran habe ich in dem Moment nicht gedacht.«
Die Oberschwester klopfte mit einem Bügel der Brille gegen ihre Schneidezähne. Anna fand das Geräusch enervierend.
»Sie waren also nicht zufällig schon vorher in dem Haus, vor der Explosion.«
»Nein.« Anna schüttelte entschieden den Kopf. »Vorher war ich überhaupt noch nie in dem Gebäude, wissen Sie, Doktor von Vries …«
»Womit wir beim Thema wären. Doktor von Vries.«
Die Oberschwester legte die Brille behutsam auf den Schreibtisch. »Mir ist zugetragen worden, dass Sie sich mit von Vries auch außerhalb der Arbeitszeiten getroffen haben.«
Leider, dachte Anna. Laut aber sagte sie: »Ich denke, das ist wohl meine Privatangelegenheit.«
»Wir dulden in diesem Hause kein unzüchtiges Betragen«, donnerte die Oberschwester. Sie hatte sich erhoben und stützte sich schwer auf dem Schreibtisch ab. Ihr großer Busen hob und senkte sich wie der Bug eines Zerstörers bei rauer See.
»Sie brauchen das gar nicht erst zu leugnen. Als man Sie ohnmächtig bei mir im Krankenzimmer
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