Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
herumzusitzen, fand sie unhygienisch.«
»Und wer sind die beiden Männer?«
»Oh, der mit der Laute, das ist Otto. Der andere ist Konstantin.«
»Ganz sicher?« Theo sah sie eindringlich an. »Konstantin zu Weißenfels und nicht etwa Sven von Vries?«
»Ganz bestimmt«, sagte Line. »Der Sven hatte doch so ein Hitlerbärtchen.« Sie hielt sich zwei Finger unter die Nase, um ihre Worte zu illustrieren. »Anna hat das grässlich gefunden. Und außerdem hat Sven fotografiert.« Sie ließ die Bilder sinken.
Es gab keinen Zweifel. Der Mann auf dem Foto konnte unmöglich Bergman sein.
»Das gibt’s doch nicht!« Hanna zerrte an ihren Locken.
Theo hatte alle zusammengetrommelt. Lars und seinen Hund, Hanna und natürlich Fatih. Paul, der Mops, spürte die niedergeschlagene Stimmung. Er hatte sich platt auf den Boden gelegt, den Kopf zwischen die Pfoten gekeilt. Von dort aus schaute er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn von einem zum andern.
»Irgendwo müssen wir einen Denkfehler gemacht haben«, grübelte Hanna. Sie waren so sicher gewesen, dass Bergman in Wahrheit Weißenfels war. Alle anderen waren tot oder kamen aus anderen Gründen nicht infrage, wie der einbeinige Dr. Körber.
»Vielleicht hat er sich operieren lassen«, schlug Fatih vor. Theo schüttelte den Kopf. »Jonathan Bergman ist schon kurz nach Kriegsende, also 1945, in die USA ausgereist. Er hat fast sofort eine Stelle in Stanford bekommen. Da muss er schon ungefähr so ausgesehen haben wie auf dem Bild von 1963 – und wie heute. Zwischen Juli 43 und Mai 45 muss er sich irgendwo verkrochen haben. Ich glaube kaum, dass ausgerechnet dort ein plastischer Chirurg zur Hand war.«
»Wohl kaum.« Hanna ließ sich auf die Couch sinken. »Ich weiß nämlich aus einem Interview, das er 1997 der ›Times‹ gegeben hat, wo er untergekommen ist. Ihm ist angeblich 1943 die Flucht aus dem KZ gelungen – zeitgleich mit dem Bombenangriff übrigens –, dann ist er über die Grenze gegangen und in einem Spital in Dänemark untergeschlüpft, irgendwo auf dem Lande. Offenbar hatte er dort einen guten Freund, der ihm die nötigen Papiere besorgt hat.«
Theo grübelte. Er ging noch mal die ganze Namensliste durch. Erschossen, gestorben, senil, gestorben, zerbombt, Suizid. Es klang wie der morbide englische Abzählreim, der die Frauen von Heinrich VIII. zum Thema hatte: »Geschieden, geköpft, gestorben, geschieden, geköpft, überlebt.«
»Erschossen, gestorben, zerbombt«, murmelte er. Er hielt inne. Dann stand er auf und ging zum Telefon. Schnell hatte er die Nummer herausgesucht. Es klingelte zwei-, drei-, sechsmal.
»Moin«, tönte die Stimme des Schweinezüchters im Alten Land.
»Moin, Herr Kruse, Theo Matthies spricht. Ich hätte da noch eine Frage.«
»Schießen Sie los.« Theo sah den alten Schweinezüchter in seiner bescheidenen Küche vor sich. »Sie haben mir erzählt, dass Sie den Leichnam von Sven von Vries geborgen haben. Sie haben aber auch gesagt, er sei ziemlich mitgenommen gewesen. Konnte man wirklich ganz sicher sein, dass es von Vries war und nicht etwa Weißenfels, der da unter den Trümmern lag?«
»Sie haben recht, das war kein schöner Anblick. Das Gesicht war total zertrümmert. Aber Doktor Richter konnte ihn dann doch identifizieren. Der Tote trug einen Ring am Finger. So einen schweren Siegelring. Altes Familienerbstück.«
Theo bedankte sich und legte auf. Dann reckte er die geballte Faust in die Luft: »Yes! Wir haben ihn!«
Paul sprang auf und kläffte.
»Es ist Sven von Vries?«
»Mit Sicherheit. Der Scheißkerl hat einfach seinen Ring an die Leiche seines Freundes gesteckt. Und dann ist er untergetaucht.«
Dienstag, 27. Juli 1943
Sven von Vries ließ den Knüppel neben Anna auf den Boden fallen und ging in den Nebenraum, in dem sein toter Freund lag. Er hatte ihn bereits etwas von Schutt befreit, als er Anna die Treppe hinaufkommen hörte. Sein Entschluss stand bereits fest. Das war die Gelegenheit, um spurlos zu verschwinden. Niemand würde nach ihm suchen, denn das Grab von Sven von Vries würde für jeden auffindbar sein. Sven glaubte nicht an einen Gott, aber an das Schicksal. Vor allem glaubte er daran, dass das Schicksal ihm stets gewogen war. Er und Konstantin hatten beide ungefähr dieselbe Statur und dunkles kurzes Haar. Der weiße Arztkittel tat sein Übriges. Glücklicherweise hatte er sich, auf Annas Drängen hin, vor Kurzem das Hitlerbärtchen abrasiert. Noch so eine freundliche Geste des Schicksals. Blieb
Weitere Kostenlose Bücher