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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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arischen Rasse ist natürlich Unfug. Ich habe mit Schwarzen, Juden und Arabern zusammengearbeitet, die brillante Köpfe waren. Nein, die wirklichen Herrenmenschen sind die, die sich nicht von ihren Emotionen leiten lassen.«
    Anna schüttelte ungläubig den Kopf. »Ohne Emotionen verkümmert der Mensch. Kennst du nicht die Untersuchungen an Waisenkindern aus den Fünfzigerjahren? Die Säuglinge hatten alles, was sie brauchten, Essen, Medikamente, ein sauberes Bettchen. Und trotzdem sind sie gestorben wie die Fliegen. Sie sind gestorben, weil ihnen menschliche Zuwendung fehlte.«
    »Nun, aber sie sind ja nicht alle gestorben, nicht wahr? Die, die es geschafft haben, waren eben stark genug. Stärker als die anderen, weil sie auf emotionale Nähe nicht angewiesen waren.«
    Nein, dachte Anna müde, sie wurden seelische Krüppel. Aber sie sagte nichts.
    »Emotionen sind nichts als chemische Reaktionen im Gehirn«, dozierte von Vries weiter. »Sie dienen dazu, die Gemeinschaft zu schützen, und zwar zum Zweck der Arterhaltung. Sie sollen die Mutter dazu bewegen, sich für ihr Kind aufzuopfern, und den Mann, seine Familie zu ernähren und zu schützen.« Er beugte sich vor. »Anna, das ist ein archaisches Programm. Das brauchen wir heute nicht mehr. Schau mich an: Ich bin der bedeutendste Hirnforscher des letzten Jahrhunderts. Und das nur, weil ich völlig frei bin vom Ballast der Emotionen.«
    »Das ist aber nur möglich, weil der Rest der Welt die Kartoffeln anbaut, von denen du dich ernährst, und deinen Müll beseitigt. Und diese Menschen haben Familie, Freunde, sie lieben, und sie leiden. Wäre jeder auf dem Egotrip, würde das alles nicht funktionieren.«
    »Oh, da will ich gar nicht widersprechen. Alle diese Menschen sind ausgesprochen nützlich. Aber sie stehen im Dienste von jenen, die die wahre Elite sind. Der Führer ist zwar tot. Sein Tausendjähriges Reich ist in Schutt und Asche untergegangen. Aber letztlich hat er doch gewonnen. Sieh dich um, lies Zeitung, geh auf die Straße: Die Macht ist mit den Spekulanten, den Bankern, den wetterwendischen Politikern. Nur wer skrupellos genug ist, kommt ganz nach oben. Das Tausendjährige Reich ist längst keine Utopie mehr, auch wenn es etwas anders aussieht, als Hitler es sich erträumt hat.«
    »Eine Herrenrasse von Psychopathen?«
    »Sag das nicht so abfällig. Der Mensch der Zukunft ist frei von Sentimentalitäten, ein kühler Rationalist.«
    »Das klingt nach Mr. Spock von Raumschiff Enterprise. Die Weltherrschaft der Vulkanier? Na, besten Dank«, sagte Anna. »Wenigstens wäre Mr. Spock nicht dafür, lebensunwerte Wesen zu vernichten«, fügte sie hinzu.
    »Aber das bin ich doch auch nicht.« Er schien ehrlich erstaunt. »Ganz im Gegenteil, ich glaube, dass jeder nützlich sein kann. Erinnerst du dich noch an Maja?«
    Maja. Es gab kaum einen Tag, an dem sie nicht an die Freundin gedacht hatte. Und in vielen Nächten hatte sie der Anblick ihres kahl geschorenen, verdrahteten Schädels in den Trümmern verfolgt.
    »Maja war zwar ein Krüppel, aber die Wissenschaft hat ihr ungeheuer viel zu verdanken. Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, sie würde uns noch alle überraschen? Und das hat sie wahrhaftig. Sie war übrigens nicht so zimperlich wie du. Sie hat immer gesagt, dass sie alles tun würde, um auch die winzigste Chance zu nutzen, gesund zu werden. ›Und wenn ich dabei draufgehe, aber Sie haben was Wichtiges herausgefunden, dann hat sich das auch gelohnt‹, hat sie gesagt.«
    Anna brannten Tränen in den Augen. Das klang tatsächlich ganz nach Maja. Trotzig blinzelte sie.
    Von Vries erhob sich. »Nun, ich habe sie nie vergessen. Ich habe sogar ihr Andenken für die Nachwelt bewahrt. Für Zeiten, in denen die falschen Moralvorstellungen nicht mehr den Blick auf das Notwendige verschleiern. Warte, ich zeige es dir.« Er erhob sich und ging zur gegenüberliegenden Wand. Das war der Moment, auf den Anna gewartet hatte. Blitzschnell beugte sie sich vor und schnappte sich einen kleinen Gegenstand vom Tisch. Sie verstaute ihn in einem der vielen Fächer von Juttas Tasche. Verstohlen sah sie zu von Vries hinüber. Doch der war damit beschäftigt, einen Safe zu öffnen, der in der Wand eingelassen war. Er entnahm ihm eine große schwarze, mit Samt verkleidete Schachtel, die er feierlich vor Anna auf den Tisch stellte. Argwöhnisch blickte Anna von dem dunklen Würfel zu von Vries und wieder zurück. Er löste zwei Haken, sodass sich der obere Teil abheben ließ.

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