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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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Moment der ganzen Aktion. Umständlich zog er sein wohlgefülltes Portemonnaie aus der Brusttasche des Overalls und fischte eine druckfrische Visitenkarte heraus.
    »Bitte sehr. So ein Kärtchen geht doch nicht so leicht verloren wie ein Flyer.«
    »Oh, ich denke, wir werden Sie und Ihren Freund gern wieder in Anspruch nehmen.«
    Selçuk strahlte. »Wiedersehen, und noch ein frohes neues Jahr.«
    Er trabte davon.
    Als er sich hinter dem Steuer niederließ, lehnte er kurz die Stirn auf das Lenkrad. »Da machste was mit«, stöhnte er. Er riss sich zusammen und startete den Wagen. Er fuhr nur ein kurzes Stück bis zur übernächsten Abbiegung. Die Fatih-Puppe neben ihm hing schief in ihrem Gurt. Selçuk rückte sie mit der rechten Hand wieder zurecht. Er parkte den Wagen vor einem hässlichen cremefarbenen Bungalow, vor dem halb zu Tode gestutzte Buchsbaumbüsche ein erbarmungswürdiges Dasein fristeten. Die Fenster im Erdgeschoss waren allesamt vergittert. Wie man die wohl putzt?, fragte er sich, schon ganz Fachmann. Dann stieg er aus, um Fatihs Doppelgänger in den Kofferraum zu stecken. Vorwurfsvoll starrten die Puppenaugen ihn an, als er den Deckel schloss. Er überprüfte, ob er noch genug Saft auf dem Handy hatte, und setzte sich dann wieder in den Wagen. Wie vereinbart sollte er in der Nähe bleiben – für alle Fälle. Er riss einen Schokoriegel auf – der erste einer üppigen Ration –, biss hinein und fischte ein Taschenbuch aus dem Handschuhfach. »Der Fänger im Roggen« von J. D. Salinger hatte er bestimmt schon hundertmal gelesen. Er konnte dem Held des Romans nur beipflichten, dass die ganze Welt verlogen war. Nachdem er das Buch vor circa drei Jahren zum ersten Mal gelesen hatte, hatte er sich geradezu erleuchtet gefühlt. Er beschloss, nie mehr in seinem Leben zu lügen oder etwas Verlogenes zu tun. Der Schwur hielt genau dreizehn Stunden und siebenundzwanzig Minuten, bis seine Schwester Selma heulte und seine Mutter ihm einen kräftigen Klaps auf den Hinterkopf gab.
    »Deine Schwester ist nicht zu dick«, hatte sie gebrüllt, »sie hat bloß kräftige Knochen, wie alle Frauen in unserer Familie.« Seither fand Selçuk die Sache mit der totalen Ehrlichkeit noch immer äußerst wichtig, musste sich aber eingestehen, dazu nicht das charakterliche Format zu haben. Seufzend schlug er eine beliebige Seite in dem Roman auf. Er landete in der Szene mit dem cholerischen Taxifahrer und den Enten. Holden Caulfield, der 16-jährige Held des Romans, wollte wissen, was mit den Enten im Winter geschah, wenn die Teiche zufroren. Der Taxifahrer namens Horwitz hatte ihm eine ausgesprochen kühne Theorie serviert: Die verdammten Enten würden einfach festfrieren und Nahrung über die Poren in ihren Flossen aus dem verdammten Eis ziehen.
    Selçuk fand die Theorie unwiderstehlich. Er hielt sich die Hand vor die Nase auf der Suche nach seinen eigenen Poren. So abwegig war das Ganze eigentlich gar nicht. Erst neulich hatte er gelesen, dass bestimmte Cremezusätze gefährlich waren, weil sie über die Haut in den Körper gelangten.
    Er klappte das Buch zu, schaltete den CD-Player an und machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst. Vor Mitternacht würde Fatih wohl nicht in Aktion treten. Er blickte auf seine Armbanduhr, die an einem schmalen, mehrfach gewickelten Lederband sein Handgelenk umspannte. Noch mindestens acht Stunden. Er seufzte und biss in seinen Schokoriegel.
    Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung hinter einem der vergitterten Fenster. Dort stand eine Frau, die ihn offensichtlich beobachtete. Sie griff zu einem Telefonhörer und sprach aufgeregt hinein, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Verdammt. Er knüllte das Schokoladenpapier zusammen und verstaute es sorgsam im Aschenbecher. Offenbar kam er der Dame des Hauses verdächtig vor. Grummelnd startete er den Motor. Er hatte keine Lust, irgendwelchen Bullen Erklärungen abgeben zu müssen, warum er ausgerechnet hier herumstand und Musik hörte. Muss schon ein hartes Schicksal sein, so viel Kohle zu haben, dass man ständig Schiss hat, ausgeraubt zu werden, dachte er. Er startete den Motor. Im Rückspiegel sah er, wie die Frau hinter dem Fenster noch immer in den Hörer sprach.
    Fatih saß unterdessen in seiner Dachkammer fest. Er hatte es sich auf einem zerschlissenen Chintzsessel bequem gemacht. Für den Fall, dass wider Erwarten jemand auftauchen sollte, konnte er sich hinter dem voluminösen Rücken des Sitzmöbels gut verbergen. Allerdings sah das

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