Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Wie ein Zauberkünstler liftete er die äußere Hülle und gab den Blick auf den Inhalt frei.
Mein Gott, er ist wirklich vollkommen wahnsinnig, dachte Anna. Und dann fiel sie in die zweite und letzte Ohnmacht ihres Lebens.
Freitag, 16. Januar 2009
»Gute Arbeit«, sagte eine Stimme hinter ihm. Fatih fuhr zusammen. Der dicke weiche Teppich, der den Schlafzimmerboden im ersten Stock bedeckte, hatte die Schritte verschluckt. Vor ihm stand der alte Mann, den er schon einmal beim Blick aus dem Fenster der Nachbarin gesehen hatte. Aber jetzt trennte ihn wenig mehr als ein Meter von dem Mörder. Er wirkte absolut harmlos, ein netter alter Herr in Strickjacke und mit freundlichen Knitterfältchen um die Augen. Fatih merkte, wie plötzlich alle Nervosität von ihm abfiel.
Dich kriege ich, du Schwein, dachte er grimmig und schenkte Bergman sein strahlendstes Lächeln. »Freut mich. Sorry, dass ich Ihnen nicht die Hand geben kann«, sagte er und deutete auf seine nassen Hände. Eher würde ich sie mir auch abhacken, dachte er.
»Machen Sie das schon lange?«, wollte Bergman wissen.
»Noch nicht so sehr lange. Wissen Sie, das ist ein guter Nebenjob fürs Studium«, erklärte Fatih.
»Oh, Sie studieren.« Blitzartig sortierte der alte Mann den Jungen in eine andere Schublade seines persönlichen Wertesystems.
»Mathematik«, nickte Fatih, »nächsten Sommer fange ich an.«
»Sehr schön, mein Junge, ich freue mich immer, wenn ich ambitionierte junge Leute treffe.« Fatih hätte ihm am liebsten den Eimer Schmutzwasser in die selbstgefällige Visage geschüttet.
»Also. Ich mach dann mal weiter …«
»Aber natürlich.« Bergman nickte leutselig und ging hinaus. Am anderen Ende des Raumes hörte Fatih, wie Selçuk laut aufatmete.
Während des Putzens inspizierten sie unauffällig die Zimmer. Wo könnte Fatih sich verstecken, bis die Hausbewohner schlafen gegangen waren? Noch wichtiger: Wo könnten sie einen Hinweis auf Bergmans wahre Identität finden?
»Wonach suchen wir überhaupt?«, hatte Selçuk ihn noch auf der Fahrt zur Villa gefragt.
»Keine Ahnung. Vielleicht hat er ja irgendwo seine originale Geburtsurkunde aufbewahrt. Oder ein Foto seiner wahren Mutter.«
»Wäre das ein Beweis?«
Fatih zuckte die Achseln. »Ich muss es wenigstens versuchen.«
Im obersten Stock stießen sie auf ein ehemaliges Dienstbotenzimmer, in dem sich nun allerhand Krempel stapelte. Alte Koffer, angeschlagene Möbel, ausrangierte Bücher. Auf einer Truhe saß ein Teddybär mit nur einem Arm, der sicher einige Jahrzehnte auf dem pelzigen Buckel hatte. Vor dem schmutzblinden Fenster stand eine Schneiderpuppe mit einer Wespentaille, die am lebenden Objekt sicher nur durch energischen Einsatz eines Korsetts zu erzielen war.
Selçuk ließ den Blick über das Sammelsurium wandern. »Ich glaub nicht, dass das Zeug hier Bergman gehört. Das sieht eher so aus wie der gesammelte Trödel von vorigen Besitzern.«
Fatih musste ihm zustimmen. »Aber vielleicht hat er auch ein paar Dinge hier verstaut, die für uns interessant sein können.«
Selçuk verzog zweifelnd das Gesicht. »Egal. Immerhin steht hier genügend Gerümpel herum, um sich zu verstecken.«
Eine Dreiviertelstunde später kassierten sie ihren Lohn von Bergmans distinguiertem Sekretär. Der war voll des Lobes. Er legte für jeden noch einen Zehner drauf. »Trinkgeld«, sagte er. Nun kam der heikle Teil des Manövers. Unter dem Vorwand, ihr Putzzeug zu verstauen, liefen sie in einer geplant verwirrenden Choreografie mehrere Male zwischen Haus und Selçuks Auto hin und her. Sie hofften, dass niemand bemerken würde, dass Fatih beim letzten Mal nicht mit zum Wagen zurückkehrte. Als gewagtes Tarnmanöver hatten sie sogar eine Schaufensterpuppe Fatih-artig ausstaffiert, die sie auf dem Rücksitz unter einer Wolldecke verborgen hatten. Selçuk blickte sich um und setzte sie rasch auf den Beifahrersitz. Fatih stand derweil mit klopfendem Herzen in der Halle, wo er sich vorläufig unter der Treppe in der Garderobe versteckt hatte. Wie vereinbart kehrte Selçuk noch einmal zum Haus zurück. Er klopfte höflich mit dem Messingdelfin, obwohl die Tür offen war. Fitzpatrick ging auf ihn zu.
»So, wir wären startklar«, sagte er. »Wenn wir Ihnen vielleicht unsere Karte dalassen dürften?«
»Aber sicher.«
Hinter den Schultern des Mannes sah er, wie Fatih sich aus dem Schatten löste und hurtig die Treppe hinaufhuschte. Selçuk hielt den Atem an. Das war vermutlich der heikelste
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